Im Großen Saal in der Oranienburger Straße herrschte am Donnerstagabend dichtes Gedränge. So viele Interessierte kamen, um dem Zeitzeugen, der Auschwitz, Buchenwald, Todesmärsche und weitere Konzentrationslager überlebt hat, zuzuhören. Den Abend moderierte Anne Will.
Vor Beginn des Gesprächs hatte Anja Siegemund, Direktorin der Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum, gesagt, dass jedes Zeitzeugengespräch etwas Besonderes sei, und kündigte an, dieses werde »umso besonderer« sein. Sie sollte recht behalten.
eltern »Je älter ich werde, desto mehr erinnere ich mich«, erzählte der 96-Jährige. Dagegen könne man nicht ankämpfen. Er sei tief verletzt als Mensch, seine Würde sei ihm genommen worden, und eigentlich habe er alles während der Schoa verloren: Seine Eltern und Verwandten – alle 35 Mitglieder seiner Familie – sind in Auschwitz ermordet worden. »Als ich damals im KZ war und einen Vogel sah, habe ich mich gefragt, warum ich nicht ein Vogel sein könnte«, sagte er. Menschen, die das nicht erlebt haben, könnten es nicht verstehen.
Leon Schwarzbaum kam 1921 in Hamburg zur Welt und zog später mit seiner Familie in das oberschlesische Bendzin. Dort verlebte er eine unbekümmerte Kindheit und Jugend. Mit Freunden gründete er die Musikband »Jolly Boys«, die vom Swing begeistert war. Nach dem Einmarsch der Wehrmacht im September 1939 musste die Familie ins Ghetto umziehen und Zwangsarbeit leisten. 1943 floh Leon Schwarzbaum, wurde jedoch festgenommen und nach Auschwitz deportiert.
Als es vor knapp zwei Jahren zum Prozess gegen den ehemaligen SS-Unterscharführer Reinhold Hanning kam, stand für Leon Schwarzbaum fest, als Zeuge und Nebenkläger aufzutreten und zu den Verhandlungsterminen von Berlin nach Detmold zu fahren. Hanning wurde schließlich wegen Beihilfe zum Mord in 170.000 Fällen im Vernichtungslager Auschwitz verurteilt, starb aber kurze Zeit nach der Urteilsverkündung.
wahrheit »Wir waren derselbe Jahrgang, und ich wollte, dass er endlich die Wahrheit erzählt«, sagte Schwarzbaum. Hanning sollte berichten, was er in Auschwitz erlebt hatte. Es habe einen Moment im Gerichtssaal gegeben, da habe er Hanning ansprechen können, sagte Schwarzbaum. »Er hat immer mit gesenktem Kopf auf seinem Platz gesessen, doch als ich ihn anredete, hob er ihn«, erzählte Schwarzbaum.
»Hat er Ihnen in die Augen geschaut?«, wollte Moderatorin Anne Will wissen. Er habe ihn angesehen, aber nicht mit ihm gesprochen, berichtete Schwarzbaum. »Sie haben Ihre Chance vertan, Ihr Gewissen zu erleichtern«, habe er zu ihm gesagt.
Es gebe kein Verzeihen, denn das könnten nur die Toten. »Die Nazis haben mein Leben zerstört. Warum haben die Deutschen das getan? Warum haben sie diese vielen unschuldigen Menschen ermordet? Das würde ich gerne wissen.«
»Ich würde ihm so gerne etwas Tröstendes mitteilen, aber mir fehlen die Worte«, meinte anschließend Bettina Franke, Zuhörerin und Lehrerin an einer Sekundarschule. So wie sie empfanden viele Zuschauer an dem Abend. Am Ende des Gesprächs gab es stehende Ovationen. So sehr hatte Leon Schwarzbaum sein Publikum beeindruckt mit seiner bescheidenen Art und seiner Überlebensgeschichte.
schulen Erst spät habe er über das Erlebte sprechen können, sagte Leon Schwarzbaum. Als seine Frau noch lebte, habe er nur vergessen wollen. Doch seit ihrem Tod sei es für ihn immer wichtiger geworden, Zeugnis abzulegen. Als Zeitzeuge ist der 96-Jährige seitdem viel unterwegs, vor allem auch in Schulen. »Ich muss sprechen: Ich spreche für die Toten« – so begreift er seinen Auftrag.
Kürzlich hat Leon Schwarzbaum noch einmal alle früheren Orte seines Lebens aufgesucht – gemeinsam mit Hans-Erich Viet. Der Regisseur drehte mit ihm »ein dokumentarisches Roadmovie« mit dem Titel Der letzte Jolly Boy – demnächst soll der Film in die Kinos kommen.
Uwe Neumärker, Direktor der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas, gab am Anfang des Gesprächs zu bedenken, dass dem Kuratorium seiner Stiftung aufgrund des Wahlerfolges der AfD demnächst auch ein Politiker dieser Partei angehören werde. Mitglieder der AfD fordern eine »Erinnerungswende von 180 Grad«, kritisierte er.
»Ich bin entsetzt«, kommentierte Leon Schwarzbaum diese Entwicklung. »Denn wir leben in einer Demokratie – wir müssen sie nur anwenden.