Er ist kein Mann der markigen Sprüche. Mit und ohne die vielen Orden wirkt Jakov Kolodizner ähnlich ruhig, offen und vital. »Das Glück seines Lebens«, Bella Kolodizner, sitzt lächelnd neben ihm. »Seit 58 Jahren leben wir zusammen«, sagt der 88-jährige Weltkriegsveteran, »16 Jahre davon hier an der Spree.« Von Heimweh nach Kiew keine Spur. Jakov schwärmt von den Bibliotheken und Museen Berlins, Bella bringt Fotos von der Enkelin, die hier in Deutschland zu einer erfolgreichen Turniertänzerin avanciert. Von freundlichen Nachbarn und aufmerksamen Freunden ist die Rede, auch von erlebnisreichen Stunden in der Jüdischen Gemeinde.
Erst als er auf die Ereignisse vor 65 Jahre zu sprechen kommt, fällt ein Schatten auf sein Gesicht. Jakov Kolodizner war einer von rund 500.000 Juden, die von Juni 1941 bis Mai 1945 in der sowjetischen Armee kämpften. Kein Tag ohne Gefahr, Tod und Bildern der Verwüstung.
Neubeginn Doch wie hunderte andere jüdische Kriegsveteranen lebt er heute im Land des einstigen Todfeindes, hat die zerfallende UdSSR Anfang der 90er-Jahre für immer verlassen. Die erste Zeit in der neuen Heimat war beschwerlich, körperlich und mental. Kontakte mit anderen Kontingentflüchtlingen haben geholfen, Vereinsstrukturen und nicht zuletzt die Veteranenclubs in den Gemeinden.
Jährlich rund um den 9. Mai erinnern die einstigen Kämpfer sich und ihr Umfeld an das Grauen und den Heroismus von einst, ehren die Gefallenen und feiern das Ende des Dritten Reiches. Nach Zeiten der Irritation kommt ihnen mittlerweile auch von nichtrussischen Juden viel Respekt entgegen. So lobte Rabbiner Yitzhak Ehrenberg vergangenen Donnerstag im Gemeindezentrum Fasanenstraße den Kampf der jüdischen Offiziere und Soldaten als »die größte Mizwa«, die man sich vorstellen könne. »Ihr habt das Leben von Juden und Nichtjuden gerettet«, rief Ehrenberg den Veteranen zu. »Ihr habt viele Auszeichnungen an der Brust, aber die eigentliche Medaille tragt ihr in euch.«
Erinnerung »In unserer Armee hatten alle das gleiche Los – Juden wie Nichtjuden«, erinnert sich Kolodizner. »Täglich hatten wir den schmalen Grat zwischen Leben und Tod zu gehen, stündlich konnte einen feindliches Feuer treffen. Antisemitismus gab es dort kaum, der kam eher von ranghohen Politikern.« Was aber fühlte der gerade mal 23 Jahre alte hochdekorierte Oberleutnant im Mai 1945, der eines Großteils seiner jüdischen Verwandten beraubt war? »Ich war mir rasch sicher, dass nicht alle Deutschen Mörder sind«, erklärt Jakov in der Rückschau, »und ich hielt es für unklug, sie pauschal anzuklagen, trotz dieser unglaublichen Verbrechen.« Vergessen aber sind die dramatischen Kriegsjahre nicht.
ehrenmal Das Ehepaar Kolodizner ist dabei, als der Weltkongress russischsprachiger Juden am vergangenen Sonntag zu einer Großveranstaltung am sowjetischen Heldendenkmal im Tiergarten einlädt. Unbekannte hatten das Ehrenmal in der Nacht zuvor beschmiert. Die mit roter Farbe aufgetragenen Parolen wurden noch zuvor verdeckt, so dass die meisten Veteranen, Diplomaten, Jugendlichen und Kinder, die vor der wuchtigen Soldatenskulptur ein Meer von Blumen niederlegen, die Schmierereien nicht wahrnehmen.
Als der Kriegsveteran Peter Feldmann die Millionen getöteter Soldaten und Zivilisten erwähnt, macht sich lähmende Stille breit. Der einstigen Kiewerin Maja Balzak (78) stehen die Tränen in den Augen. Sie hat den Krieg überstanden, ihren 19-jährigen Bruder aber schon in den ersten Kriegstagen verloren. Es ist eines der ungezählten Schicksale, vor denen sich auch Stefan Kramer, Generalsekretär des Zentralrates der Juden, in einer kurzen Ansprache verneigt.
Auf die Gedenkreden folgt eine Schweigeminute, dann wird auf einer Großleinwand die Siegesparade vom Roten Platz in Moskau übertragen. Schrittweise löst sich nun die Anspannung. Erfrischungen werden gereicht, Familienfotos geschossen, Umarmungen ausgetauscht, Erinnerungsschleifen verteilt.
Auch Rabbiner Reuven Yaakobov ist zur dreistündigen Gedenk- und Siegesfeier gekommen. Er hat seine Kinder Bat El und Nathanel dabei: »Meine eigenen Vorfahren stammen aus Usbekistan, und beide Großväter haben gegen Hitler gekämpft. Die Kinder sollen deren Geschichte kennen.«