Bei mir sieht fast jeder Tag gleich aus. Doch weil so vieles monoton ist, sehe ich zu, dass nicht alles in bestimmten Zeitstrukturen abläuft und ich nicht jeden Morgen um die gleiche Uhrzeit aufstehe. Das würde mich töten. Ich weiß, wann ich im Geschäft sein muss, in den Stunden davor bewahre ich mir die Flexibilität. Geöffnet haben wir montags bis freitags von 9.30 bis 18.30 Uhr und samstags bis 14 Uhr. Samstags bin ich immer im Laden. Daran erkennen Sie, dass ich sehr, sehr liberal über das Thema Religion denke. Ich halte den Schabbat nicht, der ja im Grunde der höchste Feiertag ist.
Im Einzelhandel zu arbeiten, bedeutet für mich, die ganze Woche im Geschäft zu sein. Das ist mein Leben. Der Rhythmus sieht so aus: Montag bis Freitag fahre ich morgens zum Laden und abends wieder zurück nach Hause. Samstags komme ich früher heim. Meine Cousine arbeitet mit im Verkauf, deswegen habe ich auch mal die Möglichkeit, morgens später zu kommen, abends früher zu gehen oder auch zwischendurch eine Stunde weg zu sein. Vieles dreht sich ums Geschäft. Zwei bis drei Mal im Jahr fahre ich zu Modemessen. Zuletzt war ich Ende Juli in Düsseldorf und habe die Ware für die nächste Saison bestellt.
Ausbildung Mein berufliches Ziel war schon sehr früh der Einzelhandel. Wenn man in dieser Branche tätig sein will, muss man wissen, was mit den Teilen passiert, die bei einem im Laden hängen. Ich hatte ganz genaue Vorstellungen. Vielleicht habe ich die Gene von meinem Papa geerbt. Die Textilbranche war seine Welt. Ich habe in Berlin eine Ausbildung gemacht, als Industriekauffrau für Textil.
Es gab nicht allzu viele andere Städte, um diesen Beruf zu erlernen. Viele Unternehmen gehen dorthin, wo sich die Hersteller befinden. Schon damals, 1983, haben die meisten Firmen nicht in Deutschland produziert, weil die Arbeitslöhne hier so hoch sind. In Deutschland wird gezeichnet, kalkuliert, es werden hier die Stoffe gekauft, aber nicht genäht, denn das ist zu teuer.
Seit 1987 bin ich im Einzelhandel. Zunächst hatte ich in Offenbach ein Geschäft aufgebaut – da habe ich 80 bis 90 Wochenstunden gearbeitet! Das macht man gerne, wenn man für die Arbeit lebt. Ich habe dann aber einen Strich gezogen, das Geschäft abgegeben und bin zu einer Agentur gegangen, einer Zwischenstufe zwischen Hersteller und Verkäufer. Im Prinzip bin ich vom Einzelhandel zum Großhandel gewechselt.
Nach fünf Jahren habe ich dann wieder einen Laden aufgebaut, diesmal hier in Frankfurt. Man muss sich vorher genau überlegen, welche Klientel man ansprechen möchte. Welche Kundschaft kommt, hängt ja von der Ware ab, die man anbietet. Und wenn man wie ich in Frankfurt aufgewachsen ist, dann weiß man, in welcher Gegend man das Konzept umsetzen kann. Inzwischen habe ich das Geschäft schon acht Jahre lang. Es zog mich zurück nach Frankfurt. Hier wurde ich geboren und bin in die jüdische Grundschule gegangen. Ab der fünften Klasse war ich auf dem Herder-Gymnasium. Wann ich geboren bin? Das verrate ich nicht.
Hund Vor fünf Jahren habe ich mir einen Hund gekauft. Seitdem ist mein Leben anders. Wenn man einen Hund hat, kann man nicht so viel weg sein. Der Hund hat einen großen Platz in meinem Leben. Meine Mutter auch. Wir leben zusammen in einem Haus, aber in getrennten Wohnungen. Meine Kindheit war durch eine liberale, aber traditionell bestimmte Haltung geprägt. Die Feiertage wurden begangen, mit Familie und Freunden, die mit am Tisch saßen. Ich überlege gerade, was die Feiertage für mich bedeuten ... Im Prinzip ist es so, dass ich mich heute an die Feiertage meiner Kindheit und Jugend erinnere, dass wir zusammensaßen und es leckeres Essen gab.
Was die Rituale betrifft, ist Rosch Haschana nicht wie Pessach, das ja weitaus mehr »zelebriert« wird. Neujahr war bei uns nie etwas Spektakuläres. Man ging in die Synagoge, danach nach Hause, es kamen Gäste, es wurde zusammengesessen, gegessen und geplaudert. Meine Mutter hat gekocht, es gab immer Gefilte Fisch.
Das gehört bei uns noch immer zu Rosch Haschana. Dieses Gericht gibt’s nur an Feiertagen. Die Zubereitung ist ja sehr aufwendig, viele Zwiebeln schälen, sie acht Stunden kochen lassen, dann gart in diesem Sud der Karpfen, der mit einer Fischmasse gefüllt ist. Ich habe es selbst nie zubereitet. Dafür ist meine Mutter zuständig. Solange sie da ist, wird sie es sich nicht nehmen lassen! Schwer vorstellbar, dass sie es jemand anderem überlässt.
Auch diesmal wird sie sich in die Küche stellen. Der Kreis der Gäste ist aber inzwischen sehr klein geworden. Wir werden diesmal nur zu viert sein: Mama, ich und zwei ihrer Freundinnen.
Kindheit Bei meinen Freundinnen, die ich noch aus der Schulzeit kenne, ist das anders. Sie haben eine eigene Familie, sind im jüdischen Leben ganz anders aufgestellt als ich. Sie können ihren Kindern die Traditionen weitergeben, von ihren Erlebnissen erzählen. Ich aber bin alleinstehend und habe keine Kinder. Ich bin mit den Traditionen aufgewachsen, trage sie in mir und mag sie.
Es gibt bestimmte Sachen, die sich mir in der Kindheit eingeprägt haben, die als schöne Erlebnisse bleiben. Das Schofarblasen zum Beispiel, das war einer der sensationellen Momente in der Synagoge. Eingeprägt hat sich auch, nicht mit einer Hose gekleidet in die Synagoge zu gehen. Das könnte ich auch heute nicht, selbst wenn ich an 365 Tagen des Jahres Hosen trage. Ich gehe nicht so oft in die Synagoge. Aber seit mein Vater nicht mehr lebt, bin ich Jom Kippur immer da – im Gedenken an ihn. Er ist vor mehr als 20 Jahren gestorben.
Das Religiöse und Traditionelle prägt nicht mehr mein Leben. Mir ist es unwichtig, dass die Menschen, die ich kennenlerne, erfahren, dass ich Jüdin bin. Ich frage auch mein Gegenüber nicht nach seiner Religion. Als Kind habe ich den Davidstern getragen, weil ich das toll fand; als Erwachsene habe ich ihn im Geschäft abgelegt, weil das so besser war. Heute würde ich ihn tragen wollen, um nach außen zu zeigen, welcher Religion ich angehöre.
Rastlos Im Moment bin ich ganz entspannt, im Einklang mit mir. Früher war ich viel unterwegs; es gab Phasen in meinem Leben, da bin ich von einem Musical zum anderen gegangen, war jeden Abend essen. Diese Rastlosigkeit mag ich heute nicht mehr. Wenn ich abends nach Hause komme, dann will ich meine Ruhe. Das Gute ist, dass ich keine familiären Verpflichtungen habe. Dadurch, dass ich allein lebe, kann ich eigentlich alles so machen, wie ich will. Das genieße ich.
Weil ich in der Woche viel im Laden bin, bleibt im Haushalt etliches liegen; darum kümmere ich mich dann meistens am Samstagnachmittag. Der Sonntag ist »Hundetag«. Ich gehe mit meinem Hund raus und will nicht viel reden. Zum Sonntagabend gehört der Fernsehkrimi. Ich gucke den »Tatort«, egal, ob er gut ist oder nicht.
Es gibt aber auch Sachen im Leben, für die ich meine Abläufe über Bord werfe. Wenn mir etwas wichtig ist, dann sage ich nicht: »Das geht nicht«. Um einer Einladung zum Frühstück zu folgen, habe ich mich einmal morgens um drei Uhr ins Auto gesetzt und bin nach Berlin gefahren. Abends um acht Uhr war ich wieder in Frankfurt. Ich bin ein Mensch, der seine Freiheit liebt – und ungern einem Diktat von außen folgt.
Aufgezeichnet von Canan Topçu