Jom Haschoa

»Ja, wir trauern«

Dieser Tag ist ein besonderer, nicht nur in Israel: Jom Haschoa, ein Tag des Gedenkens, des Erinnerns und des Lernens. Die Kerzen brannten in der Ohel-Jakob-Synagoge in München, als fünf Schülerinnen des Helene Habermann Gymnasiums »Jeder Mensch hat einen Namen« rezitierten – das berührende Gedicht von Zelda Mishkovsky, wesentliches Element jeder Gedenkzeremonie in Israel.

Ihre poetischen Worte ehren die Opfer des Holocaust, sechs Millionen Juden, die von den Nazis ermordet wurden. »Wir kommen zusammen, weil sich die Befreiung der Konzentrationslager in diesem Jahr zum 78. Mal jährt. Der heldenhafte Kampf der Aufständischen im Warschauer Ghetto liegt inzwischen schon 80 Jahre zurück. Dieser Aufstand hat gezeigt, dass Juden nicht nur Opfer sind: Sie sind auch Helden«, betonte Charlotte Knobloch zur Begrüßung.

zeitzeugin Als Zeitzeugin überlebte die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern die NS-Zeit unter falschem Namen auf einem Bauernhof in einem fränkischen Dorf.

Charlotte Knobloch bekräftigte, die Opfer seien nicht vergessen.

Knobloch bekräftigte, die Opfer seien nicht vergessen – nicht heute und nicht in Zukunft: »Das Erinnern wird Aufgabe bleiben für jede neue Generation. Dazu zählt auch die Erinnerung an die Erinnerung.« Ihre Worte verfolgten im Publikum unter anderem die Generalkonsuln Israels und der Vereinigten Staaten, Carmela Shamir und Timothy Liston, sowie der Antisemitismusbeauftragte der Bayerischen Staatsregierung, Ludwig Spaenle.

Überlebende Nun, viele Jahrzehnte nach dem Ende der Schoa, hielt die IKG-Präsidentin die Zeit für gekommen, die Last derer in den Blick zu nehmen, die den Überlebenden nachfolgten. Deren Kinder waren gefordert wie keine andere Generation: »Sie mussten schmerzliche Vergangenheit zu einer Geschichte formen. Das war und bleibt eine übermenschliche Aufgabe«, sagte die IKG-Präsidentin.

Gleich zu Beginn der Feier trug der Synagogenchor »Schma Kaulenu« unter Leitung von David Rees und der musikalischen Begleitung von Luisa Pertsovska das »L’dor vador – von Generation zu Generation« vor und leitete so zum Thema des Abends über: Hauptredner Michel Friedman sprach vor Hunderten Besuchern über die »tiefe Trauer« der Zweiten Generation.

»Es spricht zu uns nicht nur eine der bedeutendsten jüdischen Stimmen unseres Landes, sondern auch ein Mensch, der die titelgebende tiefe Trauer so gut kennt und so genau beschreiben kann wie nur wenige andere«, kündigte Charlotte Knobloch den Juristen, Philosophen und Publizisten aus Frankfurt am Main an.

familiengeschichte In seinem Buch Fremd, das den Vortrag inspirierte, erlaubt sich Friedman, von seiner eigenen Familie zu sprechen. Er habe aufgeschrieben, was er fühlt, weil er überzeugt ist, dass »nur Worte helfen werden, über Dinge nachzudenken, die so tief und so entsetzlich, so existenziell und schmerzhaft sind«.

Er erklärte plastisch, was ihn zum Schreiben geführt hat: »Ich bin auf einem Friedhof geboren, mit einem Schmerz, der keinen Anfang kennt und kein Ende. Meine Eltern waren die Friedhofswärter von 50 Gräbern, die es nicht gab – und ich war ihr jüngster Lehrling.«

Im Buch beschreibt Friedman eine Kindheit, die keine war, weil er die tiefe Trauer seiner Eltern miterlebte, die nichts ganz vertreiben konnte. Er wuchs damit auf, »dass die Traurigkeit eines Lebens eine Ewigkeit andauern kann«. Natürlich wurde in seiner Familie auch gelacht und gelebt – »aber es wurde mehr geweint als gelacht«, so Friedman.

Als Jugendlicher erlebte Friedman den Wunsch nach einem Schlussstrich.

»Ja, wir trauern. Gibt es Trost? Nein«, sagte der frühere stellvertretende Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, dessen Vater, Mutter und Großmutter von Oskar Schindler gerettet wurden. Bei den Feierlichkeiten zu Friedmans Barmizwa war Schindler als Ehrengast anwesend.

1965 war der Junge mit seinen Eltern von Frankreich nach Deutschland gezogen, damals zehn Jahre alt. Friedman schildert plastisch, wie das Kind sich damals über das »Land der Mörder« wunderte: »Alles war sauber. Aufgeräumt. Weggeräumt. Keine Spuren von früher. Wiederaufbau. Wirtschaftswunder. Was hatte das Kind erwartet. Gefangene?«

Seine Eltern sind gepeinigt von der Scham, überlebt zu haben, und von Angst: vor nächtlichen Telefonanrufen, Polizisten, Verwaltungsbeamten – sie lebten mit den Mördern. Als Jugendlicher erlebt Friedman die deutsche Wunschvorstellung eines Schlussstrichs, den Ruf nach der Stunde null: »Es muss ja auch mal gut sein …«

Verunsicherung 60 Jahre später muss derselbe Friedman Deutschland einen strukturellen Judenhass attestieren: »Der Populismus ist die größte Gefahr für die Demokratie«, und wenn die Demokratie in Gefahr gerate, sei die jüdische Gemeinschaft »immer die Generalprobe«. Dabei habe man auf jüdischer Seite die sprichwörtlichen Koffer heute vielfach ausgepackt. Persönlich berichtete er der Gemeinde bei der Gedenkstunde jedoch, für ihn seien »die Koffer wieder da«.

Zum Abschluss sprach Michel Friedman auch über seine beiden Söhne, die jetzt 14 und 18 Jahre alt sind. Er kämpfe heute um die Würde, für ein jüdisches Selbstbewusstsein und »für die Emanzipation unserer Kinder«. Mit den Klängen des El Mole Rachamim von Rabbiner Shmuel Aharon Brodman fand ein eindrücklicher Abend danach seinen Ausgang.

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