Mikrowelle statt Mensa und Zoom statt Seminarraum: Zwei Jahre lang haben Studierende in Deutschland ihre eigenen Hochschulen kaum von innen gesehen. Auch für Esther Belgorodski schlossen sich die Türen der Universität Bremen wieder, bevor sie dort überhaupt richtig angefangen hatte zu studieren. »Ich war nur sechs Wochen im Studium, als Corona kam«, erzählt die heute 22-Jährige.
Die aus Hannover stammende Studentin ist seit ihrer Jugend in der jüdischen Gemeinschaft aktiv. Erst als Madricha im Jugendzentrum, heute als Präsidentin des Verbands Jüdischer Studierender Nord (VJSNord), einer regionalen Untergruppe der Jüdischen Studierendenunion Deutschland (JSUD). Als die Corona-Pandemie auch Deutschland erreichte, machte sie sich daher nicht nur über ihren künftigen Bildungsweg Sorgen. »Wie gestaltet man Aktivismus in Zeiten der Pandemie?«, fragte sich Belgorodski damals.
Strategie Sie und ihre Mitstreiter an anderen deutschen Universitäten fanden auf dieses Problem mit neuen Veranstaltungsformaten und Kommunikationsstrategien eine passende Antwort. Mehr noch: Ausgerechnet in der Zeit der Corona-Semester wurden die jüdischen Studierendenorganisationen bedeutsamer denn je – innerhalb wie außerhalb der jüdischen Gemeinschaft.
»Wir haben es geschafft, uns als Organisation zu etablieren.«
Anna Staroselski
Diesen Eindruck hat auch Anna Staroselski, Präsidentin der JSUD. »In den letzten Jahren haben wir es geschafft, uns als Organisation zu etablieren und die Stimmen von jungen Jüdinnen und Juden sicht- und hörbar zu machen«, sagt die Geschichtsstudentin aus Berlin. Das liegt nicht zuletzt an Staroselski selbst: Regelmäßig schreibt die 26-Jährige Gastbeiträge für Zeitungen und ist in Fernsehen und Radio als Gesprächspartnerin zu jüdischen Themen sehr gefragt.
aktivitäten Natürlich habe Corona die Aktivitäten der JSUD erst einmal ausgebremst, so Staroselski. »Leider konnten große geplante Projekte nicht stattfinden.« Die erzwungene Verschiebung auf Online-Formate habe teilweise aber auch die eigene Reichweite erhöht.
»Bei unserer digitalen Vollversammlung im April 2021 haben sich mehr als 300 Personen zugeschaltet«, erzählt Staroselski, die seit Frühjahr 2020 Präsidentin der JSUD ist. Dennoch: »Der persönliche Austausch bleibt wichtig« – und war in letzter Zeit auch wieder besser möglich. Das nutzte die JSUD im April dieses Jahres beispielsweise für eine gemeinsame Bildungsreise nach Israel, wo sich die jüdischen Aktivisten mit verschiedenen politischen und zivilgesellschaftlichen Akteuren zum Austausch trafen.
Auch in Bremen haben die jüdischen Studierenden immer, wenn es die Corona-Regeln zuließen, auf Präsenzveranstaltungen gesetzt. »Vergangenen Herbst haben wir an unserer Universität die ersten jüdischen Campuswochen durchgeführt«, erzählt Esther Belgorodski, die in der Hansestadt Integrierte Europastudien studiert. »Das war ein echter Meilenstein.« Die Aktion zum Semesterbeginn sei auf viel Interesse auch seitens nichtjüdischer Kommilitonen gestoßen und habe zeigen können, »dass es auch hier jüdische Studierende« gibt.
expertise Als Präsidentin der VJSNord ist Belgorodski mittlerweile Ansprechpartnerin für das Thema Judentum. Das regionale Fernsehen hat sie interviewt und die Bremer Schulbehörde ihre Expertise für eine Handreichung gegen Antisemitismus einbezogen. Bei ihrer Arbeit geht es der jüdischen Studentin aber mindestens genauso sehr um die Binnen- wie um die Außenwirkung. »In Bremen gab es bisher wenige Angebote für junge Jüdinnen und Juden.«
Durch die Aktivitäten der jüdischen Studierendengruppe habe sich das mittlerweile geändert. So wurde etwa ein jüdischer Stammtisch etabliert, berichtet Belgorodski. Bei den regelmäßigen Treffen gehe es darum, »das eigene Judentum zu erfahren« und »unsere Jüdischkeit neu zu denken«.
Wie Esther Belgorodski gehört auch der 18-jährige Noam Petri zu einer neuen Generation jüdischer Aktivisten. Schon seit einigen Jahren engagiert er sich gegen Antisemitismus und für das jüdische Leben, etwa im Jugendvorstand von Makkabi Deutschland. Für seinen Einsatz erhielt er unter anderem den Bürgerpreis seiner Heimatstadt Frankfurt. Seit vergangenem Herbst ist er zudem der Social-Media-Beauftragte der JSUD.
netzwerke »Mithilfe von Twitter, Instagram und Co. kann man seine Message viel schneller verbreiten«, erzählt Petri, der ab dem nächsten Semester Medizin studieren möchte. In den sozialen Netzwerken könne man schnell auf aktuelle Entwicklungen, etwa Antisemitismus-Fälle, reagieren und ein großes Publikum erreichen, so Petri. Aber: »Als Jude will man nicht auf Diskriminierung reduziert werden, man will seine Geschichte und seine Kultur mit einbringen.«
Im Internet kläre die JSUD daher bereits zu jüdischen Feiertagen und Traditionen auf und plane gerade zusätzlich ein neues Social-Media-Projekt. Dabei sollen bekannte Persönlichkeiten vorgestellt werden, deren Jüdischsein bisher weniger Aufmerksamkeit erfahren hat – etwa der in der Nähe von Bamberg geborene Jeans-Erfinder Levi Strauss. Für Noam Petri geht es darum, »ein positives Bild des Judentums zu vermitteln«.
Im vergangenen Jahr fand die Campuswoche an 13 Hochschulen statt.
Das ist auch das Ziel der Jüdischen Campuswochen. »Eine Woche lang mit jüdischer Gegenwart auseinandersetzen«, umreißt Anna Staroselski das Programm der Veranstaltungen, die im vergangenen Jahr an insgesamt 13 Hochschulen stattgefunden haben. Die JSUD-Präsidentin hofft, dass es in diesem Herbst noch mehr sein werden.
Kommendes Wochenende veranstaltet die JSUD daher ein »Leadership-Seminar«, das junge Aktive auf die Durchführung der Campuswochen vorbereiten soll. Gleichzeitig sei das Seminar auch »ein Investment in die Zukunft der JSUD«, so Staroselski. Bei der Jüdischen Studierendenunion steht nämlich bald ein Generationenwechsel an. Wenn im kommenden Frühjahr die Wahlen für das Präsidium anstehen, wird Staroselski nicht mehr kandidieren. Sie schließe bald ihr Masterstudium ab und gebe gerne anderen die Chance, sich zu beweisen. »Es ist Zeit für frischen Wind«, sagt sie.