Rebecca, Toby, Liora und Dylan, ihr seid alle in den USA aufgewachsen. Was habt ihr mit Deutschland assoziiert, bevor ihr hierhergezogen seid?
Rebecca Blady: Die »Endlösung« …
Toby Axelrod: Absolut. Ich wurde 1956 geboren. Das war eine Zeit, in der der Holocaust ein großes Thema war, auch in unserer Synagoge.
Rebecca: In meiner Familie haben wir deutsche Produkte boykottiert: keine Schuhe, keine Autos …
Liora Jaffe: Das war in meiner Familie auch so.
Dylan Kassin: Für mich war Deutschland ein Land, das von Juden »gereinigt« wurde, ein Land, das in der jüdischen Welt nicht mehr existierte. Ich hatte keinen blassen Schimmer, dass es hier immer noch eine aktive jüdische Gemeinschaft gab.
Toby, du bist 1997 als Journalistin nach Deutschland gekommen. Was hat dich hierhergeführt?
Toby: Ich hatte bereits vorher als Journalistin gearbeitet und mich dafür interessiert, wie Nichtjuden in Deutschland mit den Verstrickungen ihrer Familie in die Naziverbrechen umgingen. Ich wollte herausfinden, wie Menschen mit dieser Vergangenheit leben. Zu der Zeit gab es noch viele Täter und Zeugen.
Wie würdest du die jüdische Gemeinschaft Ende der 90er in Berlin beschreiben – auch im Vergleich zu der Gemeinde, in der du aufgewachsen bist?
Toby: Auf Long Island und auch in New York City war ich Teil einer riesigen jüdischen Gemeinschaft. Mit dieser Prägung bin ich nach Deutschland gekommen. Ich erinnere mich an meinen ersten Feiertag in einer Synagoge in Berlin: Auf dem Weg dorthin versuchte ich wie gewohnt, die vielen Juden zu entdecken, die zur Synagoge strömen. Und ich sah tatsächlich viele Leute auf der Straße, aber dann bogen sie auf einen Markt ab. Sie wollten alle einfach nur Gemüse kaufen. Nur ein Mann ging weiter bis zur Synagoge. Das war ein kleiner Kulturschock für mich. Aber ich habe noch eine andere Erinnerung: In der Synagoge lief ein Kind umher, stolperte über ein Kabel, und das Licht ging aus. Der ganze Gebetsraum wurde dunkel, und alle lachten. Da dachte ich mir: Okay, hier ist jüdisches Leben.
Wie hast du dich als Amerikanerin in der jüdischen Gemeinschaft Berlins eingelebt?
Toby: Ich war wirklich vorsichtig, mich zu engagieren, weil ich nicht einfach hineinplatzen wollte, wie ein »Ugly American«. Das war nicht meine Art. Ich war die Journalistin, die von außen zuschaute und über die Dinge schrieb.
Es gab definitiv Spannungen mit Amerikanern, die dachten, sie wüssten alles besser.
toby axelrod
Was meinst du mit »Ugly American«?
Toby: Es ist ein altes Klischee, das manchmal stimmt. Ein Beispiel: Während eines Treffens mit Mitgliedern der jüdischen Gemeinde fragte einmal ein jüdisch-amerikanischer Besucher: »Warum lebt ihr noch hier? Wie fühlt ihr euch damit, eure Kinder in Deutschland großzuziehen?« Eine Frau brach daraufhin in Tränen aus. Sie war so verletzt und fühlte sich angegriffen. Es gab definitiv Spannungen mit Amerikanern, die dachten, sie wüssten alles besser, die helfen wollten, aber oft zu aufdringlich waren.
Liora, du bist 15 Jahre später als Toby nach Deutschland gekommen. War deine Erfahrung eine andere?
Liora: Ich kam 2013, das war eine wirklich interessante Zeit. Durch die Zuwanderung der Juden aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion war die jüdische Gemeinschaft um ein Vielfaches angewachsen. Die jüngere post-sowjetische Generation, die größtenteils in Deutschland aufgewachsen war, wollte nun die Leerstelle füllen, die Toby in den 90ern erlebt hat. Dadurch gab es einen Boom an kleinen jüdischen Projekten. Es lag das Gefühl in der Luft, dass man alles tun und die Gemeinschaft mitgestalten konnte.
Welche Rolle spielten amerikanische Juden bei diesem Boom?
Liora: Eine komplizierte. Es gab einige amerikanische Institutionen, die investierten und ein Interesse daran hatten, eine jüdische Gemeinschaft in Europa und besonders in Deutschland zu erhalten. Aber am Ende sind viele der Projekte hier lokale Erfolgsgeschichten gewesen.
Rebecca: Ich stimme Liora zu. Ich erinnere mich an viele Amerikaner, die Energie und Wissen hierher mitbrachten. Sie gaben einen hilfreichen kleinen Impuls. Aber am Ende haben wir die positive Entwicklung dieser Jahre all den Menschen zu verdanken, die hier aufgewachsen sind.
Rebecca, dein Mann und du, ihr seid 2016 hierhergekommen und habt eine Gemeinschaft für junge Juden gegründet. Warum habt ihr die wohl größte jüdische Stadt der Welt, New York, verlassen und seid nach Berlin gezogen?
Rebecca: Das war eine sehr persönliche Entscheidung. Wir fühlen uns in kleineren jüdischen Gemeinschaften viel wohler. In Brooklyn hatten wir alles in unmittelbarer Nähe: Es gab koschere Restaurants und jüdische Geschäfte an jeder Ecke. Aber wir glauben, dass es Teil eines sinnerfüllten jüdischen Daseins ist, es bewusst zu leben. Und wir hatten angefangen, genau das zu verlieren. Als Rabbiner wollen wir die Menschen wirklich kennenlernen, die um uns herum sind. Wir kamen mit der Vorstellung hierher, mehr mit den Juden in Berlin als mit denen in New York gemeinsam zu haben.
Hat sich diese Vorstellung bewahrheitet?
Rebecca: Nicht ganz. Ich musste erst lernen, wie viel Wissen ich als selbstverständlich angesehen habe, weil ich in einem Haushalt aufgewachsen bin, in dem beide Eltern jüdisch lebten. Ich sah, wie meine Mutter den Schabbat feierte. Ich sah, wie mein Vater betete. In einer Familie aufzuwachsen, in der die Tradition von Eltern und Großeltern übernommen wird, ist für die meisten Juden in Deutschland nicht die Regel. Ich wusste zwar auf einer intellektuellen Ebene, dass es hier für das Judentum diesen riesigen Bruch gegeben hat. Aber es hat eine Weile gedauert, bis ich wirklich verstanden habe, was das bedeutet.
In Berlin spürte ich ein Stück der Vielfalt, die ich aus New York kenne, nur mit weniger Barrieren.
dylan kassin
Dylan, du bist vergangenes Jahr nach Deutschland gekommen. Du hast gerade die Geschichten über die aufregenden Zeiten der frühen 2010er-Jahre gehört – übt Berlin heute noch die gleiche Anziehungskraft auf amerikanische Juden aus?
Dylan: Berlin ist immer noch berühmt für all die spaßigen Sachen, von denen junge Amerikaner träumen: Partys, Techno und lange Nächte. Es ist nicht die wunderbare jüdische Gemeinschaft, die sie hierherzieht. Dennoch, nach meinem ersten Schabbat in einer orthodoxen Synagoge in Berlin war ich begeistert: Ich hatte viele Menschen unterschiedlichen Alters gesehen, Kinder, die wild herumtobten, Teenager in Jeans, einen Mann mit einem echten Strejmel. Hier spürte ich ein Stück der Vielfalt, die ich aus New York kenne, nur mit weniger Barrieren.
Liora: Als ich nach Deutschland kam, hatte ich eine ganz andere Erfahrung, besonders in den traditionellen Gemeinschaften außerhalb Berlins. Ich fand mich mehr als einmal bei einem Kiddusch wieder, wo ich die einzige Englischsprechende war. Die Kommunikation beschränkte sich meist auf ein Wort: »Wodka?«
Rebecca: Dylan, wie meinst du das, wenn du sagst, dass die Gemeinschaft in Berlin so zugänglich sei?
Dylan: Die Informationen über kommende Veranstaltungen sind gut zugänglich, und solange du es auf die Liste schaffst, damit dich der Sicherheitsmann hineinlässt, bist du dabei. Ich fand es ziemlich einfach, mit Leuten ins Gespräch zu kommen, selbst ohne Deutsch oder Russisch zu sprechen. Ich spüre hier keine Spannungen innerhalb der jüdischen Gemeinschaft.
Toby: Ich denke, es gibt einen riesigen Unterschied zwischen meiner damaligen Erfahrung und deiner heutigen, Dylan. Ich war auf der Suche nach meinem spirituellen Zuhause in Berlin und ging zu einem egalitären Gottesdienst. Doch dann sah ich, wie einige Mitglieder der Gemeinschaft darüber stritten, ob bei den Gottesdiensten Musikinstrumente verwendet werden sollten oder nicht. In New York hätte man sich einfach eine andere Synagoge gesucht. Aber in Berlin gab es schlicht nicht genug Optionen.
Dylan: Genau das hat doch auch eine sehr positive Seite: In New York ist alles so gespalten. Ich hatte nie das Gefühl, einfach nur jüdisch sein zu können. Ich war ein modern-orthodoxer Jude, dessen Eltern in eine ganz bestimmte Synagoge in Manhattan gehen. Es reicht in New York nicht aus, nur Jude zu sein, weil es so viele gibt.
Liora: In den USA hatte ich nie das Gefühl, einer Minderheit anzugehören. Erst in Deutschland habe ich wirklich verstanden, wie es ist, ein sehr kleiner Teil einer größeren Gesellschaft zu sein.
Rebecca: Dieses Gefühl, eine winzige Minderheit in Deutschland zu sein, hat sich seit dem Hamas-Angriff vom 7. Oktober 2023 verstärkt. Ich habe dadurch auf eine ganz neue Weise verstanden, wie wichtig Israel als Zufluchtsort für Juden hierzulande ist. Das gilt besonders für einige der jungen Leute, deren Familien aus der ehemaligen Sowjetunion erleben mussten, wie ihnen das Sicherheitsnetz unter den Füßen weggerissen wurde. In meiner Gemeinde in den USA hatte ich das Gefühl, dass hier das jüdische Leben gesichert ist. Jetzt, wo ich in Deutschland lebe, ist das Bedürfnis nach einem Zufluchtsort – und das ist die entscheidende Rolle Israels für so viele Juden – viel größer.
Es gibt eine Kluft zwischen linken jüdischen Kreisen in Amerika und der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland.
rebecca blady
Dieses unterschiedliche Verhältnis zu Israel führt offenbar zu einem Konflikt: Immer wieder kritisieren linke jüdische Intellektuelle aus den USA den deutschen Umgang mit Antisemitismus und Antizionismus. Die amerikanisch-jüdische Philosophin Susan Neiman spricht gar von einem »philosemitischen McCarthyismus« in Deutschland nach dem 7. Oktober 2023.
Rebecca: Es gibt eine Kluft zwischen linken jüdischen Kreisen in Amerika und der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland. Hierzulande sind Juden eine kleine Minderheit und oft von ihren kulturellen und religiösen Wurzeln abgekoppelt. Jüdisch aufzuwachsen, das ist hier schwieriger. Viele amerikanische Juden verstehen das nicht. Außerdem unterscheidet sich das Konzept der Meinungsfreiheit in Deutschland erheblich von dem der USA, wo es viel weiter gefasst ist. Kritik aus den USA an Deutschland übersieht diesen wichtigen Unterschied.
Toby: In Deutschland gibt es bestimmte Dinge, die man nicht sagen, zeigen, tun oder sogar singen darf. Wenn man diese Grenze überschreitet, fällt die Reaktion stark aus. Gleichzeitig finde ich es irreführend, wenn behauptet wird, man dürfe Israel in Deutschland nicht kritisieren – denn das stimmt einfach nicht. Ich sehe solche Kritik regelmäßig.
Rebecca: Dieser Vorwurf ist nicht nur irreführend, sondern auch schädlich. Die Diskussion ist so polarisiert, dass es nur zwei Extreme gibt: linker Intellektualismus auf der einen Seite und »philosemitischer McCarthyismus« auf der anderen. In diesem Klima findet sich die jüdische Gemeinschaft in einer vertrackten Situation wieder.
Dylan: Ich bin der Meinung, dass einige Einschränkungen der Redefreiheit zu weit gehen. Manchmal habe ich das Gefühl, dass die Leute schon an der Vorstellung Anstoß nehmen, dass andere überhaupt eine Meinung äußern, die sie ablehnen.
Toby: Das habe ich früher auch so empfunden. Aber nachdem ich einige Zeit hier verbracht habe, sehe ich die Dinge etwas anders. Bei bestimmten Demonstrationen wird »From the river to the sea, Palestine will be free« skandiert, was für viele Menschen eine eliminatorische Botschaft enthält. Für mich persönlich ziehe ich hier eine Grenze. Es hat keinen Sinn, einen Dialog mit jemandem zu führen, der die Existenz des jüdischen Staates ablehnt.
Mittlerweile ist diese Parole in Deutschland in bestimmten Kontexten verboten.
Dylan: Ich habe ein seltsames Gefühl, wenn Nichtjuden in der deutschen Regierung Gesetze zum Schutz von Juden schaffen, die gleichzeitig dafür sorgen, dass sich bestimmte Juden in Deutschland nicht mehr wohlfühlen. Diese Darstellung ist natürlich sehr oberflächlich und geht nicht auf das eigentliche Problem ein. Aber manchmal finde ich es wichtig, einen Schritt zurückzutreten und sich einzugestehen, dass all das in gewisser Weise ziemlich lächerlich wirkt.
Liora: Ich kann mit Rebeccas Aussage über die Polarisierung viel anfangen – niemand kann gewinnen, wenn beide Seiten nicht miteinander kommunizieren. Manchmal fühlt es sich hoffnungslos an.
Toby: Jeder will den Streit für sich entscheiden, anstatt sich anzuhören, was der andere zu sagen hat.
Das besondere Verhältnis zwischen Deutschland und Israel ist auch durch den Holocaust geprägt. Was haltet ihr von der Art und Weise, wie Deutschland mit diesem Kapitel seiner Geschichte umgegangen ist?
Toby: Jeder mit deutschen Wurzeln wird früher oder später mit diesem Thema konfrontiert – und nimmt sich dessen dann entweder an oder lehnt eine Beschäftigung damit bewusst ab. Aber niemand kann es vollständig ignorieren. Das ganze Konzept des »Schlussstrichs« – die Idee, dass es ein Ende der Diskussion gibt, als ob wir das Thema bewältigt hätten – erscheint mir so unzureichend und so oberflächlich.
Leute fangen plötzlich an, einem schreckliche Geschichten über die Taten ihrer Großeltern zu erzählen.
liora jaffe
Liora: Was mir hier auffällt, ist das Unbehagen, das viele Leute mit Juden haben. Während die Aufarbeitung der Geschichte der ermordeten Juden im Vordergrund steht, sind hier immer noch viele unsicher, wie sie mit denjenigen von uns umgehen sollen, die am Leben sind. Es ist nicht unbedingt so, dass die Leute offen antisemitisch sind. Es geht eher um das mulmige Gefühl, das entsteht, wenn ich sage, dass ich Jüdin bin. Dieser kurze Moment, in dem die Leute das verarbeiten und dann nicht mehr in der Lage sind, auf einen so zu reagieren wie zuvor, oder plötzlich anfangen, einem schreckliche Geschichten über die Taten ihrer Großeltern zu erzählen. Manchmal hat man den Eindruck, dass viele nur über das Thema Holocaust eine Beziehung zu jemandem aufbauen können.
Rebbeca: Es gibt ein beunruhigendes Maß an Fetischisierung von Juden. Das ist etwas, was ich in den USA nicht erlebt habe. Und wenn ich amerikanischen Kollegen und Freunden davon erzähle, finden sie es bizarr.
Toby: Ich habe schon sehr früh erlebt, objektiviert und zu einem Symbol für alles Jüdische verklärt zu werden.
Dylan: Die Erfahrung habe ich auch gemacht. Viel von dem Verhalten, das ich in Deutschland erfahren habe, fühlte sich wie eine seltsame Manifestation von Schuld an.
Viele Menschen in Deutschland wünschen sich das, was Toby als »Schlussstrich« bezeichnet hat, und mit der AfD gibt es eine Partei, die genau dafür eintritt und nun auch Unterstützung aus den USA erhält. Elon Musk sprach auf einer ihrer Kundgebungen und sagte, dass es in Deutschland »zu viel Fokus auf vergangene Schuld« gebe.
Toby: Was in den USA passiert, fühlt sich wie ein Verrat an den amerikanischen Werten und Prinzipien an, mit denen ich aufgewachsen bin. Wenn sich der Präsident der Vereinigten Staaten oder Elon Musk, der ähnlich einflussreich zu sein scheint, in Deutschland einmischen, ist das für mich sowohl traurig als auch beängstigend. Ich glaube jedoch, dass Deutschland stark genug ist, um solchen Einflüssen zu widerstehen. Zumindest hoffe ich das.
Rebecca: Ich bin in der orthodoxen Gemeinschaft aufgewachsen, und dort gibt es viele, die glauben, dass der derzeitige Präsident und seine Mitarbeiter das Richtige tun. Sie vertrauen ihnen, wenn sie über Deutschland sprechen. Zuvor hatten sie nie von der AfD gehört, aber jetzt sind einige meiner Verwandten begeistert, dass die AfD bei der Wahl 20 Prozent bekommen hat. Ich glaube jedoch, dass diese Partei ein sehr gefährliches Erbe mit sich bringt. Wenn ich von hier aus nach Amerika schaue, bin ich sehr verwirrt darüber, was dort passiert, etwa, dass lebenswichtige Infrastruktur und ganze Abteilungen, die seit Jahrzehnten unverzichtbar sind, gestrichen oder reduziert werden.
Liora: Ich arbeite im humanitären Bereich, und die Kürzungen der US-Entwicklungshilfe waren verheerend. Verarmte Länder und Menschen im Stich zu lassen, widerspricht meinen jüdischen Werten, vielleicht auch meinen amerikanischen. Da sich die USA in diesem Bereich deutlich zurückgezogen haben, ist Deutschland zum größten Geber von Hilfsgütern in der Welt geworden. Ich bin eigentlich keine Optimistin, aber vielleicht müssen wir nicht das Erstarken der AfD befürchten, sondern können stattdessen darauf hoffen, dass Deutschland in Zukunft ein Leuchtturm der Demokratie und humanitärer Werte sein wird.
Könnte Deutschland in Anbetracht der Situation in den USA auch zu einem Leuchtturm jüdischen Lebens und zu einem Anziehungspunkt für amerikanische Juden werden?
Liora: Vielleicht. Bei einem Schabbatessen traf ich kürzlich drei amerikanische Juden, die alle seit November hierhergezogen sind. Vielleicht ist es wirklich ein Trend.
Rebecca: Deutschland hat eine Menge zu bieten. Die institutionelle Unterstützung für die jüdische Gemeinschaft ist in diesem Land bemerkenswert. So Gott will, wird das so bleiben. Aber wir müssen das Problem des mangelnden religiösen Wissens in den deutschen Gemeinden ernster nehmen. Es braucht eine stärkere Verbindung zu den jüdischen Ritualen, der Spiritualität und Identität. Ohne diese Grundlage wird es nicht das nötige Selbstvertrauen geben, um das Judentum für künftige Generationen zu erhalten. Jüdisches Leben in Deutschland wird vielleicht nie ein Niveau erreichen, das auch nur annähernd mit dem in den Vereinigten Staaten vergleichbar ist. Doch die Menschen in den jüdischen Gemeinden in Deutschland leisten Großartiges, und ich hoffe, dass sie das Judentum hierzulande auf die nächste Stufe heben können. Das ist aber harte Arbeit.
Dylan: Ich kenne die orthodoxe jüdische Welt am besten, und zumindest für diese Gemeinschaft ist es schwer, sich eine große Zukunft in Deutschland vorzustellen. In New York gibt es überall koschere Restaurants, und man kann überall eine orthodoxe Synagoge zu Fuß erreichen. Das ist in Deutschland schlichtweg nicht der Fall, nicht einmal in Berlin.
Liora: Ich glaube nicht, dass alle Juden plötzlich nach Deutschland ziehen werden. Es geht meiner Meinung nach eher um die praktische Frage, was für die Menschen in ihrem persönlichen Leben Sinn macht und wie die Situation in den verschiedenen Ländern gerade ist. Wenn Deutschland der Ort ist, an dem sich die jüdische Gemeinschaft am sichersten fühlt, dann werden die Juden hierherkommen. Wenn sie sich in Amerika sicherer fühlen, werden sie dort bleiben. Das muss keine so existenzielle Frage sein.
Dylan: Was ist mit dem Gefühl der Zugehörigkeit?
Liora: Ich denke, Juden können überall dazugehören. Wir haben unsere eigene Gemeinschaft. Wir sind zwar zufällig Amerikaner, aber ich fühle mich in jedem jüdischen Raum zu Hause. Ich muss mich nicht in einem bestimmten kulturellen Kontext befinden, der darüber hinausgeht. Für mich ist es dieses Bewusstsein der Zugehörigkeit, das mir ein Gefühl von Sicherheit und Glück verschafft.
Das Gespräch führten Mascha Malburg und Joshua Schultheis.