Kinder sind echt. Sie sind nicht immer lieb, aber sie verstellen sich nicht. Kinder spüren, ob etwas von ganzem Herzen kommt. Wenn sie das merken, dann bemühen sie sich auch mitzumachen. Das gilt genauso für »schwierigere Kinder«.
Ich bin seit 19 Jahren Erzieherin in der Franz-Herschtritt-Kindertagesstätte der Synagogen-Gemeinde Köln. Ich leite die Arche-Noah-Gruppe. Davor habe ich zehn Jahre als Erzieherin in Israel gearbeitet, in Ramat HaSharon nördlich von Tel Aviv.
Heute hatte ich Frühdienst. Seit 7.30 Uhr bin ich im Kindergarten. Bis spätestens zehn Uhr sind alle Kinder da. Vormittags basteln wir, dann haben wir das Morgengebet im Stuhlkreis und sprechen über das aktuelle Thema. Danach gehen wir meistens raus. Nach dem Mittagessen ist Ruhephase, da wird vorgelesen, und einige Kinder schlafen.
Montags gebe ich in zwei Vorschulgruppen Hebräischunterricht. Die Kinder lernen das Alefbet kennen und ein bisschen lesen. Sie haben weniger Hemmungen gegenüber einer neuen Sprache als Erwachsene.
In Israel habe ich nur mit Vorschulkindern gearbeitet. Dort ist die Struktur anders. Drei- und vierjährige Kinder sind zusammen sowie die älteren Vorschulkinder. Das war für mich eine große Umstellung, als ich hierher kam. Hier müssen wir fast mit jedem Kind individuell arbeiten, weil der Altersunterschied und oft auch Sprachprobleme vorhanden sind. Zu uns kommen ja fast 80 Prozent russische Kinder. Deswegen haben wir eine Sprachlehrerin, die extra Deutschunterricht erteilt. Wenn die Kinder dann zur Schule gehen, sind sie sprachlich fit.
Feiertage Freitags feiern wir Kabbalat Schabbat mit Liedern und Gebeten. Den jüngeren Kindern erzählen wir die Geschichte mit Puppen und in einfacher Sprache. Bei den Älteren lese ich die Geschichte vor. Mir ist wichtig, dass sie die Wörter aus der Tora hören. Sie mögen das. Wir analysieren die Geschichte und versuchen, sie zu aktualisieren. Da kann man verschiedene Themen aufgreifen: Eifersucht, Hass, Geschwisterbeziehungen, Konflikte, und wie man damit umgeht. Danach essen wir sehr festlich. Es gibt ein Drei-Gänge-Menü mit Tischdecke, Kerzen, Challot und Kiddusch.
Wir versuchen, jüdische Atmosphäre aufzubauen und den Kindern die Tradition zu vermitteln. Die meisten kennen sie nicht aus der Familie, und über die Kleinen versuchen wir, auch die Eltern zu erreichen. Es gibt Kinder, die das dann zu Hause einfordern. Ich würde mir in diesem Bereich mehr Unterstützung von den Familien wünschen. Wenigstens traditionell ein bisschen Schabbat feiern und an Jom Kippur fasten.
Hier im Kindergarten begehen wir alle Feiertage wirklich festlich. Für Purim haben wir Hamantaschen gebacken, Mischloach Manot vorbereitet und die Megilla gelesen. Mit Symbolen, Gegenständen und Gerichten versuchen wir, eine entsprechende Atmosphäre herzustellen. Für die Kinder sollen die jüdischen Feiertage ein Teil ihres Alltags sein. Den Flur hatten wir mit buntem Krepppapier geschmückt, das war noch von Karneval. Wir feiern nämlich auch Karneval, wir sind ja in Köln. Für Purim verändern wir die Dekoration, es kommen neue Bilder dazu.
Gleich nach Purim haben wir mit den Vorbereitungen für Pessach angefangen. Man braucht etwas Zeit. Das hängt damit zusammen, dass es hier in Deutschland in der Umgebung der Kinder nicht so selbstverständlich ist, wie zum Beispiel in Israel. Dort merkt man überall Vorbereitungen: In jedem Geschäft gibt es eine koschere Ecke, überall sieht man Pessach-Reklame. Hier müssen wir alles inszenieren, damit ein Gefühl für das Fest entsteht.
Wir verbinden alle jüdischen Feiertage mit der Jahreszeit. So gehört der Frühling mit zu Pessach. Ich frage die Kinder zuerst, welche Veränderungen sie selbst bemerken. Die Natur erwacht, und wir erwachen auch. Dieses Frühlingsgefühl, das weckt alles, da ist etwas Neues. Und Pessach weckt auch etwas Neues: die Freiheit. Inzwischen haben wir angefangen, die Pessach-Geschichte zu lesen. Wir haben sie dieses Jahr, ebenso wie die Purim-Geschichte, ein bisschen mit Politik verbunden. Wir haben über Demokratie gesprochen, über Freiheit und Unfreiheit. Ich versuche, das zu aktualisieren und eine Beziehung zum Alltag herzustellen.
Die Kinder in unserer Gruppe basteln in diesem Jahr einen Mazzot-Teller. Sie haben großen Spaß an der Bastelaktion mit Kleister und Papier. Sie bemalen den Teller und verzieren ihn mit kleinen Steinen und Glitzer. Wir versuchen immer, einen Gegenstand, der zum Feiertag gehört, selbst zu machen. An Pessach wird es dann eine große Seder-Feier gemeinsam mit der Grundschule geben.
Die Feiertage begeistern die Kleinen. Bestimmt auch, weil wir versuchen, alles festlich zu gestalten und kindgerecht zu vermitteln. Die Chanukka-Lieder singen sie manchmal noch ein halbes Jahr später. Es ist faszinierend, wie auch die russischen Kinder, die noch kein Deutsch können, die hebräischen Gebete auswendig lernen. Jede Kollegin hat ihren Schwerpunkt, meiner ist die Religion. Andere machen das Sportangebot, zwei Kolleginnen sind für Musik zuständig. Und es gibt eine Technik-AG. Wir bieten sehr viel, wir fördern jeden wirklich individuell.
Heimweh Nach Deutschland bin ich gekommen, weil mein Mann von hier stammt. Er ist jüdisch, wir haben uns in Israel kennengelernt und dort geheiratet. Seine Eltern wohnten in Köln. Sie sind Holocaust-Überlebende, waren beide im KZ. Für ihn als Einzelkind war es sehr schwierig, so weit von ihnen entfernt zu leben. Während des Golfkriegs 1990 bekamen sie fast einen Nervenzusammenbruch, weil wir zuerst nicht kommen wollten. Bei uns in der Umgebung fielen viele Raketen. Meine Kinder waren damals noch klein, es war schrecklich: die Angst, die Bedrohung. Dann kamen wir Anfang 1991 nach Deutschland. Zuerst war es nur für vorübergehend geplant, doch dann sind wir geblieben. Unsere Kinder sind inzwischen längst erwachsen: Meine Tochter ist 28 Jahre, und mein Sohn wird bald 23.
Es liegen schwere Zeiten hinter uns. Mein Bruder hat im Januar letzten Jahres seine Tochter verloren. Sie hatte Krebs. Während der Schiwa gab es Raketenangriffe. Das war ein Albtraum. Ständig liefen die Sirenen, Raketen fielen, und Häuser wurden zerstört. Am letzten Tag der Schiwa, an dem viele kondolieren kamen, gingen während des Gottesdienstes die Sirenen los. Diese Zeit möchte ich lieber vergessen.
Auch wenn Köln eine angenehme Stadt ist, vermisse ich meine Familie in Israel. Die Leute hier sind sehr nett. Aber ich mag das Wetter nicht. In Israel sind jetzt schon über 30 Grad. Das kann ich mir gar nicht vorstellen. Dieser lange Winter hier, furchtbar. Bis heute habe ich immer wieder Heimweh.
Neben dem Kindergarten beschäftige ich mich gern mit Kunst. Ich habe vor Jahren einen Töpferkurs besucht. Ich wünsche mir, mehr Zeit zu haben, um mein Deutsch zu verbessern. Ich habe die Sprache nicht systematisch, sondern nur nebenbei gelernt. Aber nach einem Tag im Kindergarten kann ich mich nicht mehr konzentrieren, dann bin ich erschöpft. So viele Eindrücke aus der Gruppe, von den Eltern. Ich finde, das ist keine einfache Arbeit. Es ist ein anstrengender Beruf, doch leider in Deutschland nicht sehr anerkannt. In Israel haben Erzieher einen anderen Status. Die Bezahlung ist besser und die Einstellung der Eltern ganz anders. Dort sagt man: Kindergärten sind die Brillanten der Erziehung.