Bis zu meinem 18. Lebensjahr habe ich in Odessa gelebt. Mein Vater arbeitete dort als Galvaniseur, hat also Metall mit Silber oder Nickel beschichtet. Meine Mutter hatte den Beruf der Köchin erlernt, war aber überwiegend Hausfrau.
Wir waren eine säkulare jüdische Familie, wie es in Odessa viele gab. Wir besuchten nicht oft die Synagoge. Zu den jüdischen Feiertagen gratulierte man sich zwar, aber nur selten hat jemand aus meiner Familie »A gitten Schabbes« gewünscht. Und es sollte noch lange dauern, ehe ich in einer Synagoge Spiritualität und Geborgenheit fand.
kanada Dann verließen wir die Sowjetunion. Zu dem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, dass Odessa, die ukrainische Hafenstadt, in meinem späteren Leben noch einmal eine wichtige Rolle spielen würde. Zunächst aber reiste ich 1977 mit meinen Eltern, der Großmutter sowie meinem älteren Bruder und seiner kleinen Familie nach Wien. Von hier aus wollten wir eigentlich nach Kanada.
Dann aber hörten meine Eltern davon, dass man in Deutschland auch sehr gut leben könne. Wir kamen ins damalige West-Berlin, wo wir uns bei der Jüdischen Gemeinde meldeten. Hier konnte ich meine Lehre als orthopädischer Schuhmacher beenden, die ich noch in Odessa begonnen hatte.
Wir waren eine säkulare jüdische Familie, wie es in Odessa viele gab.
Kurze Zeit später mietete ich einen großen Laden unweit vom Ku’damm und machte mich mit einem sogenannten Dienstleistungszentrum selbstständig. Da wurden Schuhreparaturen durchgeführt, es gab einen Schlüsseldienst, wo man auch Gravuren machen lassen konnte, eine chemische Reinigung und eine Änderungsschneiderei. Schlüsseldienste hatte ich danach auch noch in zwei weiteren Bezirken.
heirat Inzwischen hatte ich geheiratet, eine Moldawierin, die lange in Israel gelebt hat und nach Berlin gekommen war. Sie arbeitete in der Firma mit. Im Jahr 1988 fuhr ich als Tourist in die Sowjetunion, und diese Reise veränderte mein Leben komplett. Ich war fünf Tage in Odessa, wo ich viele meiner früheren Freunde traf.
Daraus ergaben sich dann auch Kontakte zu Leuten, die für Außenhandelsfirmen in Moskau arbeiteten. Noch gab es die Sowjetunion, aber auch schon die ersten Joint-Venture-Geschäfte. Das konnte dort nicht jeder machen, aber ich hatte zufällig Menschen kennengelernt, die das durften.
Als ich nach Berlin zurückkam, verkaufte ich meine Dienstleistungsläden und stieg in den Export sowjetischer Waren ein. Mein erstes Geschäft habe ich mit der Firma Krupp gemacht, denen ich Gusseisen auf dem Seeweg nach Italien geliefert habe. Bald verkaufte ich sowjetische Buntmetalle, Düngemittel, Chemieerzeugnisse und auch schon Rohstoffe nicht nur nach Europa, sondern weltweit, auch in arabische Länder.
Mit der Zeit eröffnete ich Büros in Moskau, in Minsk und eines in Odessa, wo ein Angestellter im Hafen darauf achten musste, dass keine Ware verschwindet. Aber auch die Sowjetunion benötigte bestimmte Waren aus dem Westen. Deshalb habe ich sogenannte Bartergeschäfte organisiert, das waren Tauschgeschäfte. Ich brachte die Ware aus der Sowjetunion, beziehungsweise später aus der Russischen Föderation, und lieferte umgekehrt Computer, Schuhe und Babynahrung dorthin.
FLÜSSIGGAS Im Jahr 1995 bin ich umgestiegen aufs Gasgeschäft, und zwar exportierte ich aus Russland Flüssiggas, ein Produkt, das bei der Erdölförderung entsteht. Ich war der Erste, der das Flüssiggas von einer Raffinerie in Nowokuibyschewsk in Kesselwagen oder Zisternen mit bis zu 12.000 Tonnen mit dem Zug nach Deutschland brachte.
In Bernburg gibt es ehemalige Kohle- oder Salzgruben, die ich mit anderen Unternehmern zu Lagerstätten für große Mengen umgebaut habe. Diese Tavernen genannten Gruben sind heute die größten Lagerstätten für Flüssiggas in ganz Europa. Dorthin kam auch das norwegische Flüssiggas der anderen Exporteure. Es wurde mit dem russischen vermischt und anschließend anteilmäßig verkauft. Einige konservative deutsche Kunden wollten nämlich kein russisches Gas haben. Nun bekamen sie einfach nur Flüssiggas ohne nähere Herkunftsbezeichnung.
In diesen Jahren habe ich die meiste Zeit zwischen Berlin, Minsk, Moskau und Baku verbracht.
In diesen Jahren habe ich die meiste Zeit zwischen Berlin, Minsk, Moskau und Baku verbracht. Ich hatte einen eigenen Jet mit Besatzung gemietet, weil das sonst gar nicht zu schaffen gewesen wäre. Ich kannte in der Branche eine Menge Leute, die später zu Oligarchen aufstiegen. Und wenn man internationalen Außenhandel betreibt, lernt man auch eine Menge Menschen von überallher kennen.
syrien Eines Tages wurde ich nach Damaskus eingeladen und dort dem älteren Bruder des jetzigen Präsidenten Assad vorgestellt, der später bei einem Autounfall ums Leben kam. Er hatte erfahren, dass ich Jude bin, und bat mich: »Sag das hier bitte keinem.« Bei den Syrern habe ich Erdölkoks gekauft und an die Ukraine geliefert. Bei der nächsten Reise zur israelischen Verwandtschaft meiner Frau fiel bei der Passkontrolle mein syrisches Visum auf. Natürlich wollte man wissen, was ich in Syrien gemacht habe.
Ich wurde stundenlang verhört. Meine Frau sprach sehr gut Hebräisch und übersetzte alles. Zunächst war ich nicht bereit, geheime Details meiner Geschäfte preiszugeben, dann aber verstand ich auch die Sichtweise der Israelis und beantwortete entsprechend ihre Fragen.
An den jüdischen Feiertagen ging ich mittlerweile in die Synagoge, egal wo ich war: in einer kleinen Stadt in Kasachstan, in Aserbaidschan oder in Russland, wo ich überall auch Wohnsitze hatte. Irgendwann spielte der Körper nicht mehr so mit, wie er sollte. Jahrelang hatte ich nur an die Geschäfte gedacht und meine Gesundheit vernachlässigt.
Ich hatte meine Tätigkeit komplett in die Ukraine verlegt und meine deutsche Firma verkauft. Das führte dann 2014 nach der Annexion der Krim und den militärischen Konflikten in der Ostukraine dazu, dass mein restliches Vermögen, das durch die Finanzkrise von 2008 ohnehin schon dezimiert war, verloren ging. Schließlich hatte ich dort große Mengen an Flüssiggas gelagert.
werte Nachdem ich endgültig nach Berlin zurückgekehrt war, setzte bei mir eine Veränderung der Werte ein. Ich erkannte, dass das Streben nach Reichtum meiner Gesundheit geschadet hatte und dabei drei Ehen zu Bruch gegangen waren. Plötzlich waren Geldverdienen und Reichtum für mich gar nicht mehr wichtig. Eigentlich wollte ich schon immer in Frieden mit mir selbst leben. Dafür aber war nie die Zeit. Das wollte ich nun ändern.
Im Jahr 2016 habe ich die Synagoge Pestalozzistraße besucht – regelmäßig, denn gelegentlich war ich auch früher schon manchmal dort gewesen. Drei Jahre später haben mich die Gabbaim angesprochen, ob ich den Schammes machen möchte, und haben mir dafür Geld angeboten. Ich habe das abgelehnt.
Ich habe noch viele Fragen, was das Judentum betrifft.
Ich habe gesagt, dass ich das gern ehrenamtlich, als eine Mizwa, machen würde. Allerdings unter der Bedingung, dass man mich in der Religion und der hebräischen Sprache unterrichtet. Das wurde mir zugesichert, und dann kam Corona. Meinen Dienst als Schammes aber habe ich immer erfüllt, und vieles an den Ritualen in der Synagoge habe ich als »Learning by Doing« mitbekommen.
tefillin Ich habe noch viele Fragen, was das Judentum betrifft. Regelmäßig lese ich entsprechende Literatur, und zwei- bis dreimal pro Woche lege ich Tefillin. Anfangs habe ich das einfach aus Neugier gemacht. Inzwischen bin ich so weit, dass ich ohne nicht mehr leben kann. Dabei lese ich das Schma Israel und bin glücklich. Aber vor allem macht es mich glücklich, wenn in der Synagoge Beter zu mir kommen und mich fragen, ob sie dieses oder jenes im Gottesdienst richtig machen. Diese Augenblicke vermitteln mir ein Gefühl, wie ich es früher nie kannte in meinem Leben.
Inzwischen habe ich zu meinen Kindern aus meinen verschiedenen Ehen einen intensiveren Kontakt. Auch zu meiner in Berlin lebenden ersten Ehefrau habe ich eine freundschaftliche Beziehung. Unsere Tochter lebt mit ihrem Mann und meinen zwei Enkeln in der Schweiz. Sie ist dort in der Modebranche tätig. Eine Tochter aus meiner zweiten Ehe lebt in der Nähe von Leipzig und macht eine Ausbildung zur Industriekauffrau. Ich fühle mich heute als ein freier Mensch, und dazu trägt auch die Gemeinschaft unserer Synagoge bei.
Aufgezeichnet von Gerhard Haase-Hindenberg