Spurensuche in Ostdeutschland: Im Spätsommer 2014 fuhr ich mit meiner Mutter nach Erkner, einen kleinen Ort am Rande Berlins. Ich wollte unser ehemaliges Asylantenheim in der Fürstenwalder Allee sehen. Fast 24 Jahre ist es nun her, dass meine Mutter mit mir im Arm, auf der Suche nach einem besseren, sicheren und freien Leben, die engen Räume des Asylantenheims, einer ehemaligen sowjetischen Militärkaserne, bezog. Sie war damals erst 20 Jahre alt – vier Jahre jünger als ich heute.
Als jüdische Kontingentflüchtlinge aus der Sowjetunion waren wir zusammen mit Russlanddeutschen, später auch Rumänen, Serben, Kroaten und Bosniaken, untergebracht. Einige – darunter auch wir – waren vor Armut und Diskriminierung geflohen, die meisten – vor allem die Flüchtlinge aus dem zerfallenden Jugoslawien – vor Krieg, Mord und Zerstörung.
Meiner Familie fiel die Einwanderung verhältnismäßig leicht – dank des humanitären Paktes zwischen Bundeskanzler Helmut Kohl und dem Zentralratsvorsitzenden Heinz Galinski über die Aufnahme jüdischer Emigranten aus der zerfallenden Sowjetunion. Die Gesetzeslage war mit der heutigen schwierigen Situation für Flüchtlinge in Deutschland und Europa kaum zu vergleichen.
wunschland Auch die Dimensionen der Migration sind andere: Laut den Vereinten Nationen sind zurzeit weltweit mehr als 50 Millionen Menschen auf der Flucht. So viele, wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Viele wollen nach Deutschland und sich durch die beschwerliche Reise den Traum von einem Leben ermöglichen, das die Bevölkerung in diesem Land aus purem Glück genießt.
Denn nichts anderem als Glück ist der Umstand zu verdanken, auf der wohlhabenderen Seite der Welt geboren zu sein. Wie können es dann Menschen in Deutschland mit ihrem Gewissen vereinbaren, dass die aus ihren brennenden Heimatländern fliehenden Syrer, Jemeniten, Iraker oder auch Ukrainer nun in Deutschland angegriffen werden, nur weil sie als fremd gelten? Oder wenn ihre Unterkünfte in Brand gesetzt werden, wie zuletzt am ersten Pessach-Wochenende im sachsen-anhaltinischen Tröglitz?
Wer, wenn nicht wir jüdischen Kontingentflüchtlinge, sollte verstehen, was es heißt, alles stehen und liegen zu lassen und aus einem zerfallenden Land in eine verheißungsvolle Fremde zu fliehen? Müssen wir jetzt nicht auch diesen Flüchtlingen wenigstens Solidarität entgegenbringen? Denn auch viele unserer Familien verloren damals, als die Sowjetunion zerfiel, Arbeit und Hoffnung. Und damit auch das, was zum Beispiel meiner Mutter bis heute noch am meisten bedeutet: ihre Sicherheit.
Sicherheit Wer konnte, der floh und fing woanders neu an. So landete meine Mutter im Juli 1991, mit einem fünf Monate alten Kind, ohne die Sprache oder Kultur dieses Landes zu kennen und mit kaum mehr Eigentum als ihren Kleidern am Leib, hier in einem deutschen Asylbewerberheim – genauso, wie heute Tausende von Flüchtlingen aus dem Nahen Osten in ganz Europa.
Wir wurden hier von der Mehrheit nicht gerade mit offenen Armen empfangen. So äußerte das Auswärtige Amt auch damals Bedenken, ob unsere Einwanderung den um ihren Sozialstandard bangenden Deutschen noch zuzumuten sei. Dass eine reiche und auf die eigenen wirtschaftlichen Errungenschaften so stolze Gesellschaft wie Deutschland überhaupt eine Debatte darüber führt, wie viele bedürftige Menschen man aufnehmen könne, klingt wie ein schlechter Scherz. Nur ist dieser Scherz grausamer Ernst: Die Ablehnung der Mehrheitsgesellschaft mündete allein im vergangenen Jahr in rund 70 gewalttätigen Angriffen auf Flüchtlingsunterkünfte. 33 davon waren Brandanschläge.
Opferzahlen Und wie viele Tote nehmen wir im Mittelmeer – über das die meisten Flüchtlinge nach Europa kommen – einfach schulterzuckend hin? Seit Anfang des Jahres sind nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks mehr als 1750 Menschen bei ihrer Flucht im Mittelmeer umgekommen – allein 800 ertranken erst vergangenen Sonntag südlich der italienischen Insel Lampedusa. Wenige Tage zuvor kenterte ein Boot vor der libyischen Küste und kostete 400 Menschen das Leben. Damit könnte es dieses Jahr noch deutlich mehr Opfer als vergangenes Jahr geben, als insgesamt 3000 Menschen auf diese Weise ihr Leben ließen.
»Ich würde das niemals wieder erleben wollen«, sagte meine Mutter in Erkner. Ist es mangelnde Empathie, die die Menschen so abweisend sein lässt? Wie kann es sein, dass so viele Menschen in diesem Land davon überzeugt sind, dass Migranten wie Flüchtlinge in erster Linie aus purer Bequemlichkeit und in finanzieller Erwartungshaltung nach Deutschland kommen? Wissen sie, ja bedenken sie, was es für die flüchtenden Menschen bedeutet, ihre Heimat, ihre sozialen Kontakte und zumeist ihren gesamten Besitz zurückzulassen?
An dem Ort, wo unsere Unterkunft in den 90er-Jahren stand, befindet sich heute nichts mehr; meine Mutter und ich blickten auf eine deprimierende Leere. Die Kasernen, die uns als Flüchtlingswohnheim dienten, wurden vollständig abgerissen. Wir liefen am Dämmeritzsee entlang und suchten einen anderen Komplex des Asylbewerberheims. Wir fanden noch ein Haus, das ehemals als Flüchtlingsheim diente und in dem dieses Jahr ab Juli etwa 150 überwiegend syrische und irakische Flüchtlinge unterkommen sollen.
Anwohner erzählten uns, dass es erneut Zwist in der Gegend gebe: Viele beschwerten sich, dass die Entscheidung für die Unterkunft nicht ausreichend kommuniziert worden sei, und sträuben sich gegen den Wandel. So reagieren also Menschen in Deutschland – 1991 wie 2015 – auf die erkämpfte Freiheit anderer, sich ein Leben in Sicherheit zu ermöglichen: Die Alteingesessenen schotten sich ab.
Gemeinsames Schicksal Es ist erschreckend, wie sehr sich Deutschland 1991 und Deutschland 2015 ähneln. In 20 Jahren steht in Erkner vielleicht, an derselben Stelle wie ich vergangenen Sommer, ein syrischer junger Mann, Student und künftiger Steuerzahler, und reflektiert über die Flucht seiner Familie in dieses Land. Vielleicht steht er sogar vor dem gleichen maroden Gebäude, der alten Militärkaserne, und schüttelt über ähnliche Diskussionen den Kopf.
Vielleicht denkt er an die syrischen und irakischen Flüchtlinge in Erkner, zu denen er zählte, an den Brandanschlag in Tröglitz, der ihn und seine Familie hätte treffen können, und all die anderen Diskussionen um Menschen, die unter Inkaufnahme der widrigsten Umstände verzweifelt für ihr Bleiberecht streiten. Aber er wird nicht allein sein. Denn aus unseren eigenen Familienerfahrungen heraus sollten wir jüdischen Migranten nun die neuen Fremden lieben wie uns selbst. Denn Fremde waren auch wir in Deutschland – und sind es zum Teil immer noch.