Heidelberg

In den Tiefen des heiligen Alltags

»Gedächtnis der Jüdischen Gemeinden Deutschlands«: Nicht nur Akten, auch Briefe, Tagebücher und andere Lebenszeugnisse aus den vergangenen Jahrzehnten finden sich im Zentralarchiv. Foto: picture alliance/dpa

Vierunddreißig Jahre nach seiner Gründung beginnt am Dienstag ein neuer Zeitabschnitt für das Zentralarchiv zur Erforschung der Geschichte der Juden in Deutschland. Seine neuen Räume in Heidelberg hat das Archiv im April bezogen, Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) sollte das Archiv zur feierlichen Einweihung besuchen – sein Ministerium erhöhte die staatlichen Zuschüsse 2019/2020 deutlich auf mehr als eine Million Euro jährlich und ermöglichte so die Erweiterungen. Es gibt ab Oktober zwei neue wissenschaftliche Mitarbeiter, einige neue studentische Mitarbeiterinnen und viele neue Regale mit freiem Raum für das Archivmaterial der Zukunft.

Warum aber gibt es dieses Archiv, und worin besteht seine Bedeutung? Der Zentralrat der Juden gründete es 1987, in der Tradition des Gesamtarchivs der deutschen Juden in Berlin. Dieses hatte von seiner Gründung 1905 bis zur Auflösung in der NS-Zeit 1938 Bestand. Das Ziel war damals wie heute: eine Dokumentation des jüdischen Lebens und Wirkens für die Wissenschaft, Öffentlichkeit und die jüdische wie nichtjüdische Nachwelt zu schaffen.

GERÜCHE Das Material zu sammeln und sicher zu verwahren, ist nun die Aufgabe des Zentralarchivs, dessen Direktor der promovierte Buchwissenschaftler Ittai Joseph Tamari ist. »Bei uns kann das Gedächtnis der jüdischen Existenz ein Zuhause finden«, sagt er.

In dem Archiv lässt sich vielschichtig an Erinnerung anknüpfen, denn die Sammlung enthält viel mehr als Informationen: Gerüche, Düfte, die Farben alter Papiere und Pappen, die Risse und Flecken von Pergament und Handschriften mit altmodischem Schwung. Von 1945 bis zur Gegenwart – das jüdische Leben in Deutschland hinterlässt viele Spuren, und das heißt aus Sicht des Archivars: erfreuliche Arbeit. Im Einzelnen gibt es zu registrieren und verwahren: Papiere, Tagebücher, Briefwechsel, Sitzungsprotokolle, Rechnungen, Tagebücher und und und.

Der Schwerpunkt des Archivs liegt auf der Zeitgeschichte.

Es gibt für Tamari fast nichts, was es nicht wert wäre aufzuheben. Der Reiz der alten Schriftstücke erschließt sich beim Rundgang durch die Archivflure. Das macht neugierig, länger zu verweilen und zu stöbern: Da lagern nicht nur alte Bestände jüdischer Zeitungen und Magazine oder Bücher, sondern sogar persönliche Erinnerungsstücke jüdischer Einwanderer nach Deutschland aus den vergangenen vier Jahrzehnten: Bleistiftskizzen, sowjetische Holzfiguren mit Porträts von Marx-Lenin-Stalin und noch viele ungeöffnete Apparate und Kartons.

Aber Stöbern ist nicht erlaubt: Datenschutz. Vorher wäre ein präziser Antrag nötig, und die Eigentümer müssten die Einsicht genehmigen. Diese Mühen nehmen zumeist Historiker oder andere Wissenschaftler auf sich. »Aber wir stehen allen offen, die Interesse haben.« Der Datenschutz ist deshalb wichtig, weil viele der Urheber der archivierten Dokumente, oder ihre Kinder, noch leben.

SCHOA Das Archiv hat seinen Schwerpunkt auf der deutsch-jüdischen Zeitgeschichte, wobei auch einige Dokumente aus früheren Zeiten in den Regalen lagern, etwa Berichte von Schoa-Überlebenden aus den Nachkriegsjahren oder Bücher aus dem 19. Jahrhundert. Es ist eine vom Bund voll finanzierte Einrichtung des Zentralrats der Juden, der seine Akten hier auch archivieren lässt.

Der Schwerpunkt auf Zeitgeschichte grenzt das Archiv ab von historischen Sammlungen, etwa von Dokumenten aus dem Kontext der Schoa, die in New York, Cincinnati, Paris, Mailand oder Jerusalem lagern. Zeugnisse von 1700 Jahren jüdischen Lebens in Deutschland sind hingegen meist in Museumsarchiven aufgehoben. Eine gewisse Konkurrenz mit ähnlichem Sammelschwerpunkt ist das Archiv des Centrum Judaicum in Berlin, aber so will Tamari nicht denken: »Einzelgänger sind heutzutage passé, es ist gut, wenn wir an vielen Orten ein engmaschiges Netz der Erinnerung knüpfen.«

Selbst einfache Rechnungen heben die Archivare auf. »Auch solche Alltagsdokumente haben einen Wert«, sagt Tamari. »Wenn die Rechnungen einer jüdischen Gemeinde zum Beispiel in den 1970er-Jahren häufig Zigarettenkäufe belegen, dann sagt das genauso etwas aus über die Zeit wie häufige Malerrechnungen einer jüdischen Schule in der Gegenwart.« Daraus können spätere Generationen vielleicht einmal ableiten, dass die Schüler in den 2020er-Jahren ziemlich wild waren und die Wände in der Schule häufig verschmutzt.

ALLTAG »Alltag ist heilig«, sagt Tamari also. Die Alltagsquellen sind ihm deshalb ein besonderes Anliegen. Heilig bedeutet nicht, dass Alltag konfliktfrei wäre. »Wir möchten auch den grauen Alltag fassen, weil jüdische Existenz kein Zuckerschlecken war und ist.« Auch Schülerakten einer jüdischen Schule haben archivarischen Wert, ebenfalls Kündigungsschreiben von Lesern einer jüdischen Zeitung, Sterbe- und Geburtsurkunden. Und wer kann heute schon wissen, was für Historiker in 100 Jahren an unserer Gegenwartskultur interessant ist?

Selbst einfache Rechnungen heben die Archivare auf. »Auch solche Alltagsdokumente haben einen Wert«, sagt Tamari.

Dass die Geschichte der deutschen Juden kein Ende hat, dass überhaupt Juden nach der Schoa in Deutschland blieben, ist für den Archivdirektor bis heute ein Wunder. Dass viele Zehntausend hinzukamen, ein weiteres. Platz in den Regalen ist jetzt jedenfalls wieder genügend. Für Tamari und seine bald 15 Mitarbeiter (studentische Hilfskräfte und Minijobs eingerechnet) ist das ein ungewohnter Zustand. Mehr als zehn Jahre lagerten die Bestände des Archivs zuvor im Keller der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg. Dann wurde es eng, und die Bestände sollen kontinuierlich wachsen.

Nun hat das Archiv den zweiten Stock einer ehemaligen Zigarettenfabrik in der Bergheimer Straße bezogen, ein modernes, helles Loft-Gebäude zwischen Neckar und Hauptbahnhof. Ein immer größerer Teil des Archivbestandes lagert in wasserdichten und feuerfesten Kartonschatullen. Endlich könne nun auch eine Datenbank aufgebaut werden, sagt Ittai Joseph Tamari – »wir hatten noch mit Word-Dateien gearbeitet, dafür waren die Bestände aber schon lange zu groß«.

MITBRINGSEL Nicht so einfach ist es für das Archiv allerdings, an gehaltvolle neue Dokumente zu gelangen. Jüdische Gemeinden und Vereine haben oft die Neigung, wertvolle, brisante oder anderweitig interessante Stücke für sich zu behalten. Nur etwa ein Drittel der deutschen jüdischen Gemeinden nutzt das Zentralarchiv gegenwärtig. »In unserem Fischernetz haben wir noch mehr Löcher als Knoten«, sagt Tamari.

Um das zu ändern, reist er regelmäßig zu den Gemeinden, hält Vorträge, wirbt für die zentrale Archivierung – mit dem Argument, dass die Archivierung hier sicherer und professioneller sei, jedes Archivstück registriert und verschlagwortet werde. Aber nicht nur Gemeinden und Vereine sind angesprochen, sondern auch jedes einzelne Mitglied.

Auch Familien reisen nach Heidelberg und gehen hier auf die Suche nach der Geschichte ihrer Vorfahren.

Wenn Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion versterben, sind zum Beispiel auch ihre Mitbringsel aus der »alten Welt« von archivarischem Interesse. Das ist den Hinterbliebenen aber oft nicht bewusst, und sie entsorgen sie als Abfall. Die persönlichen Lebenszeugnisse zeugen davon, aus welcher Welt sie kamen, welche Rolle das Judentum für sie vor ihrer Ankunft in Deutschland spielte – oft keine oder eine geringe.

Auch Familien reisen nach Heidelberg und gehen hier auf die Suche nach der Geschichte ihrer Vorfahren. Hierzu eignet sich etwa die Lektüre von Briefen aus den Jahren 1945–1949 von Mitgliedern der Überlebendenorganisationen aus der britischen oder amerikanischen Zone. Korrespondenzen mit Behörden in den USA, Palästina oder Brasilien sind hier erhalten, Briefwechsel mit dem Jüdischen Weltkongress in Genf. Eine bedeutende Sammlung schenkte ein Mann dem Archiv, der sie auf einem Flohmarkt kaufte. Auf solche Aufmerksamkeit ist das Zentralarchiv angewiesen.

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