Ein Leben in Ostdeutschland war mir keineswegs vorgezeichnet. In Stuttgart bin ich geboren, in Tübingen und Bonn habe ich Jura studiert, doch nach dem Studium wollte ich zumindest einige Zeit im Ausland verbringen. Mir schwebte Kunstgeschichte vor, und dann wollte ich erst einmal weitersehen.
Aber daraus wurde nichts. Aus Perugia wurde Potsdam. Denn mein Studium endete mitten in der dramatischen Wendezeit. Seit 1991 arbeite ich durchgehend in Brandenburg und wohne mit meiner Familie in Kleinmachnow. Das sind nun mittlerweile mehr Jahre als im Schwabenland, und ich denke, ich bin selbst eine Brandenburgerin geworden.
Nicht dass mich damals – im Wendejahr 1989 – wirklich schon die Einheitseuphorie erfasst hätte. Eher war das Gegenteil der Fall. Während des Studiums hatte ich einmal eine grimmige Grenzkontrolle auf der Transitstrecke durch die DDR erlebt, und davor gruselte es mich noch Jahre später.
Mauerfall Als die Mauer fiel und sehr bald die deutsche Wiedervereinigung diskutiert wurde, beschlichen mich Skepsis und Unruhe. Natürlich sah ich die Bilder der glücklichen Menschen, die sich am Brandenburger Tor in den Armen lagen und diese furchtbare Mauer überwanden. Ich weiß, meine Skepsis konnte als unfair betrachtet werden, aber sie speiste sich aus einer Urangst, die meine Familie gleich doppelt mit sich trug: Die Angst vor einem Deutschland, das nochmals größenwahnsinnig wird, repressiv nach innen und aggressiv nach außen.
In der Familie meines Vaters hatte es aufrichtige Protestanten gegeben. Sein Vater gehörte während der NS-Zeit zur Bekennenden Kirche, und so war es kein Zufall, dass er frühzeitig in den Krieg geschickt wurde und dann in Stalingrad umkam. Die verbleibende Familie musste bei Kriegsende aus Ostpreußen fliehen und um ihr Leben laufen.
Meine Großmutter mütterlicherseits stammte aus einer bürgerlichen jüdischen Familie in Berlin. Sie hatte einen jungen Schwaben geheiratet, ebenfalls evangelisch, der auch sehr zeitig in die deutsche Wehrmacht eingezogen wurde.
Von nun an war Großmutter schutzlos – als Jüdin in der sogenannten Reichshauptstadt. Was dann mit ihr geschah, zählt zu den wenigen Lichtblicken jener Zeit: Die Familie ihres Mannes hat sie mit ihren Kindern in den kritischen Jahren in einem schwäbischen Dorf erfolgreich versteckt, bis zum Kriegsende. Viele andere Verwandte hatten dieses Glück allerdings nicht und wurden ermordet.
Traumata All die Wunden und Traumata aus der Nazizeit sind nach Kriegsende natürlich geblieben, und vieles hat sich auf meine Eltern übertragen. Sie haben bis heute wenig darüber gesprochen, aber dass ein stabiler Rechtsstaat mit starker Zivilgesellschaft unverzichtbar ist, das wurde mir in die Wiege gelegt. Mein Vater war mit Leib und Seele Richter und musste in seinem Beruf durchaus Mut beweisen, denn er hatte auch Prozesse gegen Terroristen in der Alt-Bundesrepublik zu führen.
Meine Mutter wurde eine unabhängige, freie Journalistin, die spannende Biografien schrieb – von Helmut Schmidt bis Joschka Fischer – und sich auch in politischen Fragen immer wieder kritisch-publizistisch einmischte. Das hat uns Drohanrufe und andere Unannehmlichkeiten eingebracht, aber die Haltung meiner Eltern hat das nicht verändern können.
Im Umbruchjahr 1989 war mein Studium beendet, in Gedanken war ich schon in Perugia. Doch dann kam ein Ruf in die neue Landeshauptstadt Potsdam. Beim Neuaufbau des Landes Brandenburg, bei der Umstrukturierung des öffentlichen Lebens und der Neugestaltung der Gesellschaft wurden junge Juristen gesucht.
Glück Ich kam im Mai 1991 in Potsdam an, arbeitete bald im direkten Umfeld von Ministerpräsident Manfred Stolpe und habe ihn sowohl als »Landesvater« als auch als Mensch sehr schätzen gelernt. Im Umweltministerium war es später kaum weniger spannend. In der Staatskanzlei hatte ich dann schließlich auch das Glück, meinen heutigen Mann kennenzulernen. 1996 heirateten wir, und 1999 kam unsere Tochter zur Welt.
2011 kam ich über einen Freund zur Stiftung Amcha. Schon als 15-Jährige war ich für einige Wochen im Urlaub in Israel gewesen, bei Verwandten meiner Mutter. Eigentlich hatte ich mich auf Anhieb in das Land verliebt. Aber nun, fast 30 Jahre später, wurde es mir konkret wichtig, mich bei Amcha zu engagieren – jener deutschen Hilfsorganisation, die zielgerichtet Holocaust-Überlebende in Israel unterstützt, vor allem jene, die arm oder stark gesundheitlich beeinträchtigt sind.
Israel Ich begann, wieder häufiger nach Israel zu reisen, sprach mit den Überlebenden und engagierte mich im Vorstand, wo ich bis heute ehrenamtlich tätig bin. Die Geschichten der Holocaust-Überlebenden und die Arbeit von Amcha ließen mich meine eigene Familie und ihre Geschichte in einem ganz neuen Licht sehen.
Ich sah auf einmal, wie sehr die jüdische Herkunft in meiner Familie immer noch als bedrohlich empfunden wird und welche Spuren die Traumata der Schoa hinterlassen haben. Über die Projekte bei Amcha kam ich erstmals in Kontakt mit der F.C.-Flick-Stiftung gegen Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Intoleranz, wo ich ein weiteres Mal auf Manfred Stolpe traf – hier aktiv als Kuratoriumsmitglied. Die Flick-Stiftung half Amcha tatsächlich in einer damals schwierigen Situation.
Weckruf Ich lernte viel über die inhaltliche Arbeit der Stiftung, und als eine neue Geschäftsführerin gesucht wurde, war das für mich wie ein Weckruf. Ich übernahm diese neue Aufgabe und habe es keine einzige Sekunde bereut. Für demokratische Bildung, Toleranz und Völkerverständigung mit jungen Menschen in Ostdeutschland zu arbeiten und gegen Rassismus, Rechtsextremismus und Antisemitismus zu kämpfen, ist für mich das Wichtigste. So kann ich aktiv dazu beitragen, dass sich die Schrecken des Nationalsozialismus hoffentlich nicht wiederholen.
Vorrangige Zielgruppe der Flick-Stiftung sind junge Menschen in den ostdeutschen Bundesländern. Das war schon immer so konzipiert, und gerade heute können wir sehen, wie wichtig Angebote für internationalen und kulturellen Austausch, für Kunst, Sport und natürlich Gewaltprävention sind. Aktuell sind wir mit Projekten überall in Ostdeutschland aktiv – von antirassistischen Sportturnieren über internationale Theaterwerkstätten bis hin zu Ferienprogrammen für Kinder aus benachteiligten Familien.
Das alles muss aber nicht nur finanziell gefördert, sondern auch professionell begleitet und damit den Protagonisten vor Ort, vor allem in den ländlichen Räumen, Mut gemacht werden. Für diese Aufgaben habe ich im Koordinationsbüro der Stiftung in Potsdam ein ausgezeichnetes Team junger Leute, die jede Minute mitdenken, keine Mühen scheuen und aufgeschlossen sind für Neues. Ich freue mich auch, dass wir immer wieder hochmotivierte Praktikanten und Praktikantinnen haben, die uns den Anschluss an die junge Gesellschaft leichter machen.
Refugees Teamgeist ist gerade dann vonnöten, wenn auf Neues reagiert werden muss. Als vor fünf Jahren eine größere Zahl von Geflüchteten aus Nordafrika und dem Nahen Osten auch nach Potsdam kam, konnten wir hier regelmäßig Runde Tische organisieren, bei denen zusätzliche Kräfte für die Begleitung und Betreuung der Neuankömmlinge gebündelt wurden. Vor zwei Jahren haben wir schließlich begonnen, im Rahmen unserer Möglichkeiten auch bei der Bekämpfung von Antisemitismus aktiv mitzuwirken.
Ein ganz konkretes Projekt sind regelmäßige Fortbildungsseminare für Brandenburgische Lehrer und Lehrerinnen, die wir gemeinsam mit dem Potsdamer Moses Mendelssohn Zentrum und der RAA Brandenburg durchführen. Im Anschluss an die Seminare planen wir auch Israel-Exkursionen für interessierte Lehrer. Hier hat uns die Corona-Pandemie aktuell leider einen mächtigen Strich durch die Rechnung gemacht, aber ich bin optimistisch, dass sich das wieder ändern wird.
Synagoge Nur ein paar Hundert Meter von meinem Büro entfernt hat die Jüdische Gemeinde Potsdam e.V. ihr provisorisches Domizil im Gebäude der Alten Feuerwache. Ich bin dort kein Mitglied, besuche aber gern Veranstaltungen und Feste und tausche mich häufiger mit dem Vorsitzenden Jewgeni Kutikov und anderen Freunden aus.
Die Gemeinde besteht fast gänzlich aus früheren Sowjet-Emigranten und ihren Kindern. Ich glaube, gerade deshalb fühle ich – als deutsche Jüdin – eine besondere Verbundenheit und setze mich mit dafür ein, dass endlich eine Synagoge in der Stadt gebaut wird.
Unsere Tochter hat nach der Schule als Freiwillige in Jerusalem gearbeitet und studiert inzwischen in Sachsen-Anhalt. Die Tage, an denen sie uns in Kleinmachnow besucht, sind die schönsten im ganzen Jahr.
Aufgezeichnet von Olaf Glöckner