Es gab Momente, da habe ich zurückgeblickt und gedacht: Andere hätten in dieser Zeit einen linearen Lebenslauf hingelegt. Das habe ich nicht. Meiner hat sich lange wie eine Art Patchwork angefühlt. Bis ich für mich irgendwann den roten Faden entdeckte: das Geschichtenerzählen. Das fing damit an, dass die Jüdische Allgemeine mein erstes Sprachrohr war – mit 15 habe ich meinen ersten Artikel veröffentlicht: über mein erstes Machane.
Mein zweiter Artikel, über Computerspiele, erschien im »Tagesspiegel«. 1988 war das. Da war ich 16. Später nahm ich ein Studium zum Wirtschaftsingenieur auf, arbeitete in der PR – das Storytelling war immer Bestandteil der verschiedenen Stationen in meinem Leben.
Ich bin einfach meinen Interessen gefolgt. Den Mut dazu hatte ich in mir, aber entscheidend war der Zuspruch meiner Eltern. Sie haben immer zu mir gesagt: »Mach, was du möchtest, was dich glücklich macht. Du machst das gut.«
ODESSA Ich wurde 1972 in Odessa geboren. 1973 wanderten wir nach Israel aus, kurz nach dem Jom-Kippur-Krieg. Wir lebten in Nahariya, im Norden des Landes. Mein Vater, der von Beruf Maler war, musste mit dem Maschinengewehr die Kita bewachen. Neun Monate später, 1974, zogen wir weiter nach Deutschland.
Bestimmt zehn Jahre meines Lebens habe ich ins Jugendzentrum investiert – das hat mich geprägt. Und so habe ich die Jüdischkeit in die Familie zurückgetragen.
Die Jüdische Gemeinde zu Berlin mit Heinz Galinski an der Spitze war da sehr proaktiv und nahm uns offen auf. Sie hat damals sehr um das jüdische Leben in Berlin gerungen und hatte verstanden, dass es dafür Zuzug aus der damaligen Sowjetunion braucht.
Für mich entdeckte ich die Gemeinde mit 13, im Teenager-Alter. Dann aber sehr aktiv – mit Ferienfreizeiten, Jugendgruppen, Jugendzentrum. Mit 15 leitete ich Jugendgruppen und gab Computerkurse, später auch auf ZWST-Machanot. Bestimmt zehn Jahre meines Lebens habe ich ins Jugendzentrum investiert – das hat mich geprägt. Und so habe ich die Jüdischkeit in die Familie zurückgetragen.
Wenn am Freitagabend in Odessa hin und wieder Kerzen gezündet wurden, dann war das schon viel. Synagogen wurden nur an Hohen Feiertagen besucht. In Berlin führten meine Eltern ein klassisches Arbeiter-/Angestelltenleben. Auch wenn ich später ganz andere Wege wählte, haben sie mich immer inspiriert.
Meinen ersten Zeitungsartikel veröffentlichte ich mit 15 in der Jüdischen Allgemeinen.
Meine Eltern haben es immer geschafft, ihren Pflichten nachzukommen, Familienleben zu gestalten und mir eine glückliche Kindheit zu ermöglichen – zu reisen, die Welt zu sehen, die Hobbys, die mich interessierten, zu fördern. Und wenn etwas nicht ging, dann war das auch in Ordnung.
KUNSTMAGAZIN Während der Schulzeit hatte ich sehr gute Leistungen, ich war sehr fleißig. Bis zum Abitur war die Linie klar: Es ging um Erfolg. Geld war für mich damals deshalb erstrebenswert, weil es bedeutete, etwas erreicht zu haben. Dann bin ich aber nach dem Abitur nach Israel gegangen. Ich wollte in einen Kibbuz, das Land kennenlernen. Sechs Monate war ich dort, das hat viel verändert.
Als ich nach Berlin zurückkam, war ich im Kopf noch viel offener und freier und sah die Welt mit anderen Augen. Das führte dazu, dass ich schon während des Studiums nach Projekten suchte. So war ich in der Musikbranche als Talentscout unterwegs und tauchte ebenso in die Kunstszene ein.
Erst, wenn du dich bewegst, bewegt sich etwas. Das ist offenbar mein Mantra.
1998 eröffnete sich die Möglichkeit, für ein Kunstmagazin nach Mailand zu gehen und von dort aus weiter nach New York, wo man mir die Leitung anbot. Da war ich 26 und plötzlich US-Redakteur für »Flash Art«! Das Studium hatte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht beendet, aber das war auch nicht so wichtig – ich wollte meinen Impulsen folgen.
»BERLINER« Ich bin gerne dort, wo es spannend ist, wo ich Dinge anstoßen, vorantreiben kann. Das tat ich in New York: Ich zog eine eigene PR-Agentur auf, arbeitete im Entertainment- und Filmgeschäft. New Yorker zu sein, ist, wie Berliner zu sein, eine Haltung, kein Geburtsrecht.
Nach drei Jahren ging ich zurück. Als ich 2001 in Berlin ankam, war gerade die Start-up-Blase geplatzt. Eine neue Herausforderung! Denn Fortschritt, Wandel, Innovation sind mein Antrieb. So meldete sich auch mein unternehmerischer Geist sehr schnell.
2002 startete ich ein zweisprachiges Magazin auf Deutsch und Englisch, den »Berliner«. Die erste Ausgabe trug den Titel »Steter Wandel«. Das Cover war ein aufgeklebter Spiegel. Es sollte zeigen: Erst, wenn du dich bewegst, bewegt sich etwas. Das ist offenbar mein Mantra.
2006 wurde ich Gründungsdirektor des Jüdischen Museums Moskau – heute ist es eines der modernsten jüdischen Museen der Welt.
Ich bin ein Netzwerker, das begriff ich erst im Laufe der Jahre. Leute zusammenzubringen, mit Menschen im Gespräch zu bleiben, Möglichkeiten zu sehen und zu schaffen, ist für mich ein natürlicher Prozess.
MUSEUM 2006 wurde ich gefragt, ob ich der Gründungsdirektor für ein jüdisches Museum in Moskau werden will. Natürlich war ich traurig, dass der »Berliner« endete, etwas, das ich selbst geschaffen hatte. Wir haben das zu viert gerockt, mit Freunden und meiner heutigen Frau. Aber jetzt kam Moskau!
Dank meiner Eltern war ich zweisprachig mit Deutsch und Russisch aufgewachsen. Eröffnet wurde das Haus 2012 – heute ist es eines der modernsten jüdischen Museen der Welt.
Ich bin ein Netzwerker, das begriff ich erst im Laufe der Jahre.
Zurück in Berlin, habe ich dann endlich auch meinen akademischen Makel geheilt und einen Studienabschluss an der Berliner Universität der Künste und der Uni St. Gallen nachgeholt. Das Gute am damaligen Masterstudiengang »Leadership in digitaler Kommunikation« war die Praxisnähe.
Er hatte einen Ansatz, der mir entgegenkam und zu mir passte: Kunst und Wirtschaft zusammen – so passiert Innovation. Das Recht zu scheitern, so etwas gab es früher nicht. Heute sieht man das anders: Im Scheitern lernen wir.
CANNABIS Dass ich heute etwas ganz anderes mache – eine Firma zu gründen im Bereich pharmazeutischer Großhandel mit dem Schwerpunkt medizinisches Cannabis –, hat auch damit zu tun, dass 2017 mein Schwiegervater schwer erkrankte. Die Schmerzmittel zehren an der Lebensqualität, an der Psyche. Und da gibt es die Möglichkeit, einen Teil des Morphiums zu ersetzen durch THC, legale Schmerzmittel auf Hanfbasis.
Bei allem, was ich mache, motiviert mich meine Familie.
Erfahrungen hatte ich schon: Eine Zeit lang organisierte ich für ein Pharma-Unternehmen die digitale Vermarktung in 28 Ländern. Zudem hatte ich eine amerikanische Cannabisfirma beraten, die auf dem deutschen Markt Fuß fassen wollte. Mich hat es immer geärgert, wie Cannabis gesehen wird, diese Stigmatisierung auch im Medizinischen.
Auf der re:publica 2016 hielt ich einen Vortrag mit dem Titel »The grass is always greener on the other side – Was können wir vom amerikanischen Cannabismarkt lernen?«. Ich hatte mich mit dem Thema also schon früh beschäftigt, und plötzlich war es sehr präsent in meinem Leben. Auch dazu kam ich über das Geschichtenerzählen: durch Interviews, Berichte aus dem Freundeskreis und der Familie.
Bei allem, was ich mache, motiviert mich meine Familie. Meine Eltern, meine Frau, meine Kinder. Dank ihnen kann ich nach vorne schauen und gleichzeitig andocken. 2015 wurde unser erster Sohn geboren, 2017 unser zweiter. Zwei Kinder halten einen auf Trab – Homeoffice kommt mir da sehr entgegen, da ich so viel mehr Zeit mit meinen Kindern verbringen kann. Beide gehen in den Masorti-Kindergarten.
SCHALOM ALEIKUM Das andere, was mich immer wieder bewegt, ist der Dialog, in diesem Fall der jüdisch-muslimische. Ich habe ein latentes Angstgefühl. Begründet oder nicht – es ist da. Sicherheit ist nicht mehr selbstverständlich angesichts rechtsextremer, aber auch islamistischer Gefahren.
Ich trage keine Kippa und muss das auch nicht, um eine Reaktion zu provozieren, um zu sehen, dass ich nicht gewollt bin. Wenn ich in Neukölln die Sonnenallee hinunterlaufe, kann ich das zum einen positiv wahrnehmen – die Musik, die spielenden Kinder, das leckere Essen, die Atmosphäre. Die andere Seite ist: Ablehnung von Juden.
Ich habe mich sehr früh in den Diskurs eingebracht mit einem türkisch-jüdischen Runden Tisch beim American Jewish Committee, zusammen mit meinem Freund Dervis Hizarci.
So habe ich mich sehr früh in den Diskurs eingebracht mit einem türkisch-jüdischen Runden Tisch beim American Jewish Committee, zusammen mit meinem Freund Dervis Hizarci. Das war alles noch vor dem 11. September – das Religiöse stand im Hintergrund, es ging vorrangig um die säkularen Gemeinsamkeiten als Minderheit in Deutschland.
GEDULD Die deutsche Gesellschaft ist nicht immer durchlässig. Das war mir schon früh bewusst. Deshalb mache ich auch bei »Schalom Aleikum« mit, dem jüdisch-muslimischen Begegnungsformat des Zentralrats – das sind die Wege, wie ich mich einbringen kann ins jüdische Leben, um auch hier etwas zu bewegen. Das ist mir wichtig. Auch hier tragen meine Netzwerkerfahrungen Früchte: Ob Schalom Aleikum oder Familienschabbatot in der Synagoge – dafür nutze ich die Zeit.
Schließlich geht es um unsere jüdische Zukunft, um die meiner Kinder. Ihnen will ich das mitgeben, was ich selbst erfahren habe: Liebe und Geduld. Das erste Wort, das mein Vater in Israel lernte, war »Savlanut«, Geduld. Die brachten mir meine Eltern immer entgegen.
Das erste Wort, das mein Vater in Israel lernte, war »Savlanut«, Geduld. Die brachten mir meine Eltern immer entgegen.
Geduld, Liebe, Zutrauen in mich und diese Zuversicht, dass alles, was geschieht, zum Besseren geschieht, auch, wenn es sich uns nicht gleich erschließt – das hat schon meine Oma immer gesagt, und es ist sicher eine sehr jüdische Art, die Dinge zu sehen.
Es gab nie Grenzen. Meine Eltern haben mir immer alles zugetraut. Gerade deshalb fühle ich mich – bei allen Ikarus-Momenten – geerdet.
Aufgezeichnet von Katharina Schmidt-Hirschfelder