Das Zeichnen hat mich zu sehen gelehrt. So könnte man das sagen. Dem Entschluss, einen Menschen zu porträtieren, geht voraus, dass meine Augen beim Betrachten des Gegenübers an irgendetwas hängen bleiben oder es Menschen sind, die mir nahestehen, wie der Mann an meiner Seite, mein Glück seit 33 Jahren.
Ich muss in einem Gesicht etwas sehen. Und dann fange ich an, zeichne oder male, und etwas geschieht. Etwas, was sich nicht so leicht beschreiben lässt, etwas Emotionales. Ich schaue wieder und immer wieder hin, und das berührt am Ende auch mein Verhältnis zu dem porträtierten Menschen. Bei diesem Prozess lasse ich mich von mir selbst überraschen. Ich gehe sozusagen meinem Bild voller Vertrauen hinterher und finde dabei häufig etwas, was ich weder gesucht noch vermutet habe.
Als Vorlage dienen mir beim Porträtieren meist Fotografien. Die kann ich immer wieder meinem Blick aussetzen, kann sie in die Hand nehmen, nahe ans Auge führen.
KUNSTKURSE Ich habe in München Architektur studiert. Ein spitzer Bleistift gehörte also zum täglichen Inventar, und natürlich belegte ich da auch Kunstkurse, malte, zeichnete, ließ meinen Blick schulen.
1984 hatte ich mein Diplom in der Tasche und arbeitete danach einige Zeit als freie Architektin. Daneben entwarf ich auch Schmuck. Und dann machte sich auf einmal so etwas wie ein Verlangen breit, große Stoffflächen zu bemalen. Dem ging ich tatsächlich nach. Ich bemalte ein bis zweieinhalb Meter lange Seidenbahnen mit teilweise kleinsten Ornamenten, war damit zurück in der Welt der Bildenden Künstlerin. Und nachdem meine Tante viel zu früh gestorben war, wollte ich auch nichts mehr von dem, was ich tun wollte, auf die lange Bank schieben.
Ich saß vor dem Bildschirm und sah das faszinierende Gesicht von Morgan Freeman.
Und wirklich ganz neu war das ja alles auch gar nicht. Schon als Schulmädchen hatten mich gut bestückte Malkästen mit Freude erfüllt. Eine doppelstöckige Dose mit Goldfaber-Buntstiften und der Kunstunterricht konnten mich glücklich machen.
Als dann 1987 mein Vater starb, hat mich das ganz schön aus der Bahn geworfen. Ich hatte in der Zeit das Gefühl, mich meinen Selbstzweifeln stellen zu müssen. Also sagte ich mir: Und jetzt will ich es endgültig wissen, ich will zeichnen, und ich will darin gut sein.
Es klappte. Ich zeichnete, brachte Stillleben auf weißes Papier, Salatköpfe und Stangensellerie, Handtäschchen oder Papiertüten. 2012 hatte ich dann eine neue Idee, die ich mit einer meiner Künstlerinnenfreundinnen – der Austausch ist mir wichtig – teilte: Wir gaben uns das Versprechen, dass wir einander über ein Jahr täglich eine Zeichnung anfertigen.
MALKASTEN Dabei habe ich dann einmal zu einem richtig dicken 7-B-Stift gegriffen: Ich saß vor dem Bildschirm, sah mir The Code mit Morgan Freeman an, sah dieses faszinierende Gesicht, hielt den Film an, nahm den dicken Stift zur Hand, mit dem man ja ganz anders arbeitet, und begann.
Am Ende hatte ich fast 100 Porträts von Schauspielern und Schauspielerinnen aus alten Filmen zusammen. Mal hatte ich mir die großen Stars vorgenommen, mal hielt ich die Gesichter von Menschen in kleinen Nebenrollen fest. Daraus ist 2015 die Ausstellung 1/24 – Moments of Film geworden, die ich mit all den Porträts der jüdischen Darsteller und Darstellerinnen zur Eröffnung der Jüdischen Filmtage im Münchner Jüdischen Gemeindezentrum am Jakobsplatz bestücken konnte.
Darunter befand sich im Übrigen auch eine Bleistiftzeichnung des »Münchner« Schauspielers Towje Kleiner sel. A., mit dem mich eine ganz eigene Geschichte verbindet, wie ich überhaupt sagen kann, dass mein Verhältnis zur jüdischen Münchner Gemeinde über Jahrzehnte hinweg ebenso eng wie beständig ist.
Geboren wurde ich in dieser Stadt im Jahr 1957. Ich wuchs ein bisschen außerhalb auf, am Stadtrand in Germering. Für uns Kinder war das gut dort. Wir hatten Platz, Freiheiten, rannten über die Kartoffelfelder. Und da draußen hatte sich ja auch eine kleine jüdische »Enklave« gebildet. Unsere Eltern kamen aus Föhrenwald, dem dortigen DP-Lager, und wir lebten da zusammen, umgeben von einem komplett nichtjüdischen Umfeld.
Während unsere Eltern viel distanzierter waren, spielten wir einfach alle zusammen und eben auch mit den nichtjüdischen Kindern, und natürlich gab es ab und zu seltsame Bemerkungen, und der Hausmeister, der war ganz klar mit seinen Sprüchen immer noch ein alter Nazi geblieben, der zu NPD-Versammlungen ging.
PARTISAN Mein Vater, der aus Polen stammte, hatte als Partisan überlebt. Zusammen mit einem Bruder war er der einzige Überlebende einer großen Familie. Dieser Bruder, der Bergen-Belsen und Dachau hinter sich hatte, war bei Kriegsende noch minderjährig, und deshalb ist er, vom Joint organisiert, mit dem Schiff nach Amerika gebracht worden, wo er bei einer Art Pflegefamilie unterkam. Mein Vater erhielt dann von ihm Fotos, auf denen er zum Beispiel mit Saxofon vor einem Swimmingpool stand.
Viel erzählt hat mein Vater nie. Alles, was ich über ihn und seine Familie weiß, habe ich mehr oder weniger selbst zusammengetragen. Woran ich mich erinnere, ist, dass er manchmal die Tür hinter sich zugemacht und Synagogalmusik aufgelegt hat – er war ja ein ausgesprochen musikalischer Mensch mit einem wunderbaren Tenor. Und dann hörte ich ihn weinen.
Und was mich anbelangte, sollte ich nichts machen, was irgendwie »gefährlich« sein konnte. So bekam ich zwar ein Fahrrad geschenkt, sollte es aber nicht fahren. Dasselbe geschah mit einem Paar Ski. Meine Mutter versuchte, immer ein bisschen gegenzulenken. Sie stammte aus dem heutigen Tschechien und war ebenfalls in München gelandet, wo sich dann mein Vater in sie verliebt hatte.
jugendgruppe Je älter ich wurde, umso mehr spürte ich, dass mir als Jugendliche – ich gehörte mit meinen nichtjüdischen Freundinnen einer Jugendgruppe an – etwas gefehlt hat, und mittlerweile hatte ich ja auch Kontakt zu den jüdischen Jugendlichen in der Stadt. Umso wunderbarer sind meine Erinnerungen an die »Ferienlager« in Sobernheim und Wembach. Es war so schön, jüdische Jugendliche aus anderen Städten kennenzulernen! Das hat so gutgetan.
Viel erzählt hat mein Vater nie. Alles, was ich über ihn und seine Familie weiß, habe ich mehr oder weniger selbst zusammengetragen.
Später war ich dort dann selbst Madricha. Ich fühlte mich da einfach immer unheimlich glücklich und frei und mit den anderen wie auch mit den jüdischen Traditionen verbunden. Ich erinnere mich zum Beispiel noch an die Zeit nach dem Sechstagekrieg, da war bei uns auch ein israelisches Mädchen, und das hat begonnen, ganz wunderbar »Jeruschalajim schel Zahav« zu singen, sodass unsere Madrichim zu weinen begannen und wir Jüngeren gar nicht verstanden, was da jetzt los war.
In München, in unserem »Klub« in der Prinzregentenstraße, versuchten wir einmal, als jüdische Theatergruppe ein Stück auf die Bühne zu bringen. Wir entschieden uns für Max Frischs Andorra. Und wer war unser Regisseur? Towje Kleiner! Aus der Sache ist dann am Ende nichts geworden, aber tolle Erinnerungen sind geblieben, und ich habe bei all dem etwas bekommen, was viel mit mir zu tun hat.
EXTREME Und natürlich gibt es Gründe, dass ich mich jetzt in meinem neuesten Projekt mit dem Titel »Porträts jüdischer Künstlerinnen im Zeitalter der Extreme« mit jüdischen Künstlerinnen des vergangenen Jahrhunderts befasse, die zusätzlich zu den Vorurteilen gegenüber Frauen eben auch gegen den allgegenwärtigen Antisemitismus zu kämpfen hatten. Viele von denen, nicht alle, waren der Verfolgung durch die Nazis ausgesetzt. Einige haben diese Zeit überlebt, viele nicht. In meiner Mappe liegen an die 100 Porträts dieser durch und durch kreativen Frauen mit ihren ausdrucksstarken Gesichtern bereit, und es ist mir ein wichtiges Anliegen, für sie einen passenden Ausstellungsort zu finden.
Im Übrigen habe ich auch meinen Onkel gezeichnet, den Bruder meines Vaters. Ein Nachkriegsfoto, das ihn mit Schiebermütze zeigt, diente mir als Vorlage. Leider ist er mit gerade einmal 23 Jahren in Amerika, wo er lebte, einige Zeit vor meiner Geburt beim Skifahren zusammengebrochen und gestorben. Nach dieser Zeichnung ist er jetzt wirklich zu meinem Onkel geworden.
Aufgezeichnet von Katrin Diehl