Freitagmittag in Berlin-Pankow. Fast verwunschen liegt der Bürgerpark da. Eine schattige Oase inmitten der Großstadt. Ringsum Spaziergänger und junge Mütter, die im Strandkorb frühstücken, während ihre Kinder nebenan die kleine Open-Air-Bühne erklimmen.
Am Pavillon des Kaffeehauses »Rosenstein« wartet Lea Streisand. Auch sie stand gestern Abend auf einer Bühne, der Lesebühne Rakete 2000 in Berlin-Neukölln. Viel geschlafen habe sie nicht, sagt sie. Doch ihr Blick ist hellwach und ihr Lächeln offen und warm. »War ein langer Abend gestern, wir haben ewig auf Publikum gewartet, kaum wat los wegen der Fußball-WM in Brasilien.«
pankow Lea sprudelt ohne Umschweife drauflos. Ihr Berlinerisch ist waschecht und erfrischend. Lea Streisand ist Jahrgang 1979, Schriftstellerin, Germanistin, Skandinavistin, Lesebühnenstar und seit kurzem auch Kolumnistin bei der der taz und Radio Eins. Aufgewachsen ist sie in Prenzlauer Berg. Seit ein paar Jahren lebt sie in Pankow. Das Kaffeehaus im Bürgerpark ist praktisch ihr zweites Wohnzimmer.
Am Anfang ihres Studiums habe sie noch nebenbei geschrieben, erzählt sie. Später war es umgekehrt. »Geschichten schreiben, Wissenschaft und Journalismus, am liebsten mache ich alles gleichzeitig«, sagt sie. Man glaubt es ihr aufs Wort. So schnell wie Lea denkt, will ihr Kopf die Gedanken auch zu Papier bringen. Seit 2003 liest sie eigene Geschichten in Deutschland, Österreich und der Schweiz, am liebsten aber auf Berliner Lesebühnen wie der Rakete 2000 und dem Bänsch in Friedrichshain. Dort hat sie auch ihre eigene Minilesebühne »Hamset nich kleina?« gegründet.
Abende wie gestern mit wenig Publikum sind eher die Ausnahme. Meistens ist der Laden rappelvoll. Gelesen klingen ihre Geschichten gleich nochmal so lebendig. Man hört ihr einfach gerne zu. Kein Wunder, dass Radio Eins anklopfte. Ihre Kolumne dort heißt »War schön jewesen. Geschichten aus der großen Stadt«. Dabei gleicht Berlin aus ihrer Sicht ja eher einer »Dorfkneipe«, so auch der Titel ihres aktuellen Buches. Jeder kennt jeden, Klischees sind zum Spielen da und banale Alltagsszenen die wahren Stars.
lustig »Ich mag das Alltägliche, das Sanfte. Denn das Besondere, das sieht man sowieso«, sagt Lea Streisand. Erstaunlich, wie schlicht solche großen Sätze aus dem Mund der 34-Jährigen klingen. Lea redet so, wie sie schreibt und schreibt so, wie sie denkt. Und das auch noch witzig, klug und einfallsreich. »Dabei passieren mir gar keine lustigen Sachen«, grinst Lea, »sondern dauernd Katastrophen. Über die schreibe ich, und dann wird es lustig.«
Jeder Text ist dabei anders. Um manche Texte muss sie kämpfen, andere fließen einfach so heraus. »Schreiben ist kein Nine-to-Five-Job«, sagt sie, »sondern Vollzeitdenken. Und das ist Arbeit, auch beim Twittern, Filmegucken, Lesen oder Menschen beobachten.«
So gesehen arbeitet Lea eigentlich ununterbrochen. Mit ihrem Gespür für Alltagsszenen trifft sie oft mitten ins Herz. Da sind die frechen Sprüche manchmal nur amüsante Untermalung für die leisen, tiefen Facetten des Lebens. »Wahrhaftigkeit kann es nur geben, wenn einer zuhört und hinguckt, nicht wenn er etwas konstruiert«, beschreibt Lea ihre Art, Geschichten zu erzählen.
Familiengeschichte Überhaupt Geschichtenerzählen. Das liegt bei den Streisands in der Familie. Die Großmutter, Ellis Heiden, war Schauspielerin und eine begnadete Geschichtenerzählerin, der Großvater, Joachim Streisand, einer der bekanntesten Historiker der DDR. Zwischen den beiden lagen Welten: er ein Denker und lebensferner Intellektueller, sie lebenssprühend und pragmatisch.
Ihrer Großmutter fühlt sich Lea eng verbunden. Von ihr handelt deshalb auch der Fortsetzungsroman Der Lappen muss hoch!, der seit November 2013 in der taz erscheint. Doch beim Schreiben entdeckt Lea auch ihren Großvater neu – und mit ihm ihre jüdischen Wurzeln. Daher ist aus der ursprünglichen Romanidee mittlerweile so etwas wie eine deutsche Geistesgeschichte geworden.
»Im Nachlass meiner Oma habe ich seine Briefe von 1944 gefunden. Seitenlange Abhandlungen zu Heidegger. Da war er seit zwei Jahren Zwangsarbeiter. Das muss man sich mal vorstellen, Zwangsarbeit und Heidegger, wie geht das zusammen?«, fragt Lea fassungslos. »Geschichte dürfen wir nicht aus unserem heutigen Denken heraus begreifen, sondern müssen uns hineindenken in die Köpfe von damals.« Das sei ihr beim Schreiben klar geworden.
Pöbel Um die Geschichte weiter zu schreiben, taucht Lea in ihre eigene Familiengeschichte ein, durchforstet die Briefe ihres Großvaters, versetzt sich hinein in die Gedankenwelt ihres Urgroßvaters Hugo Streisand. Der war Jude und arbeitete als Antiquar in Charlottenburg; seine Frau war nichtjüdisch, die Kinder getauft, auch Sohn Joachim, Leas Großvater. »Meine Familie wurde zu Juden gemacht, die wollten das gar nicht. Mein Urgroßvater fühlte sich sehr deutsch, seine Kinder auch. Er hat die Nazis als Pöbel gesehen.« Diese Ungerechtigkeit macht Lea heute noch wütend.
Die Urenkelin des Antiquars kehrt zurück in die Gegenwart. Sie hat mal Judaistik studiert, zwei Semester lang. Doch sie hat schnell gemerkt: Mit ihr hat das nicht viel zu tun. Das jüdische Erbe ihrer Familie sieht Lea Streisand ohnehin anderswo als in der Religion oder im Zionismus: vor allem im Denken und Geschichtenerzählen.
»Ich finde es schlimm, wenn Leute die Vielschichtigkeit der Welt in Frage stellen statt zu akzeptieren, dass die Welt kompliziert ist.« Vielleicht ist Lea Streisand auch deshalb Autorin geworden. Um die vielschichtigen, komplizierten Facetten des Lebens zu beschreiben. Um dem Denken ein Ventil zu geben oder am besten gleich drei Ventile auf einmal, um zu diskutieren, als ginge es um ihr Leben. Und weil sie Literatur als Kultur begreift. »Mich interessiert nicht, wann der Autor welches Komma setzt«, sagt Streisand. »Sondern was mir Bücher über Menschen erzählen.«
Leas Kolumnen
bei Radio Eins:
www.radioeins.de/programm/sendungen/der_schoene_morgen/war-schoen-jewesen/index.html