Es ist Sonntagnachmittag, der Himmel über Weimar zeigt sich nach einem kräftigen Regen wieder mit Sonne. Unter weißen Pavillondächern sitzen Musiker und Musikerinnen und ein Teil des Publikums. Der Herderplatz ist einer der bekanntesten der Stadt. Hier predigte, lebte und lehrte bis 1803 Johann Gottfried Herder – neben Wieland, Goethe und Schiller bildete er das »Viergestirn« des klassischen Weimar.
Der Yiddish Summer hatte zum großen Festivalwochenende geladen: Open-Air-Musik mit dem Caravan Orchestra – einem preisgekrönten Musikprojekt – und Kantorin Sveta Kundish am Abend zuvor. Sonntags dann Mini-Workshops für jene, die spontan in die jiddische Sprache schnuppern und Sessions zu Tanz und Musik erleben wollten. Selbst Yoga gab es im Park nebenan – selbstverständlich auch das auf Jiddisch.
sprache Ein Festival, das einlädt, mehr zu erfahren über jiddische Kultur und eine Sprache, die doch größtenteils in Vergessenheit geraten ist, obwohl sie genau hier »im Zentrum von Aschkenas, zwischen Frankfurt, Speyer, Köln, Erfurt, Mainz begonnen hat«, sagt Andreas Schmitges, Kurator des Festivals. »Jiddisch war damals eine wichtige Sprache, es gibt wichtige Zeugnisse, das kann man nicht genug betonen.«
Und genau hier setzt das Festival an, möchte Sprache und Kultur vermitteln, Begegnung ermöglichen, so nennt Andreas Schmitges sein Anliegen. Rund um den Platz sitzen viele Einheimische, Touristen, Laufpublikum und Familien mit Kindern. Wer Lust und Laune hatte, war willkommen, spontan, ob mit oder ohne Kenntnisse über jiddische Sprache und Musik. »Wir sagen: ›Mach mit, wenn du willst. Sprich mit uns und mit den Künstlern. Wir sind da und freuen uns, miteinander ins Gespräch zu kommen.‹«
polen Dem Yiddish Summer ist er seit vielen Jahren eng verbunden und spricht selbst fließend Jiddisch, erlernt von Muttersprachlern. Zum Kreis derer, die jene Sprache noch unmittelbar von der Familie lernten, gehört auch Khayele Beer. Sie lebt heute in Oxford, lehrt seit ihrem 17. Lebensjahr jiddische Sprache und erzählt einer kleinen Gruppe auf dem Herderplatz in Weimar, dass ihre Vorfahren eigentlich aus Polen stammten, vier Lager überlebten und dann ein neues Zuhause in Australien aufgebaut haben. Genau dort wurde auch sie geboren und hörte als Kind nur eine Sprache: Jiddisch.
Bis heute ist sie eine gefragte Lehrerin, kam gerade aus Brüssel und gehörte nun in Weimar zum Kreis derer, die intensive Workshops gaben oder eben spontan auf dem Herderplatz dazu einluden.
Das Lernen miteinander und voneinander steht
im Vordergrund.
Ob es denn eine Renaissance der jiddischen Sprache gebe? Sie könne das nicht mehr hören, sagt die zierliche alte Dame. »Denn die Sprache war ja nie weg«, meint sie. In Oxford gab sie zahllose Kurse und hat manche Geschichte parat: von Menschen, die spontan im Rentenalter oder nach einer Begegnung entschieden hatten, die Sprache zu lernen. Und ohnehin würden sich junge Leute immer mehr dafür interessieren.
Auch die beiden sympathischen und couragierten Volontärinnen des Festivals – aus den Niederlanden und aus Kanada – scheinen das zu bestätigen. Beide kennen den Klang der Sätze noch aus ihrer Kindheit von den Großeltern und haben doch bemerkt, dass ihre Eltern weniger engagiert diese Sprache lernen und benutzen wollten. Genau das möchten sie in ihrer Generation jetzt nachholen, erzählen sie, und hätten deshalb große Freude und Motivation, ihren Sommer in Weimar zu verbringen – beim Yiddish Summer.
Das Lernen miteinander und voneinander steht bei den Künstlerinnen und Künstlern im Vordergrund. Der Fokus lag diesmal auf den Einflüssen der griechischen und türkischen Musik.
wurzeln Sveta Kundish, Sängerin und Bühnenkünstlerin, sagte zu Beginn des Festivals in einem Workshop: »Es ist für mich eine unglaubliche Möglichkeit, eine neue Tür zu öffnen in eine Welt, die mir bislang fremd war, und meine eigene Musikkultur dadurch auch besser zu verstehen. Heute bin ich da, um nicht nur Lieder aus dem traditionellen jiddischen Repertoire zu präsentieren und zu unterrichten, sondern auch zu sehen, dass Lieder, die ich schon lange kannte, mit anderen gemeinsame Wurzeln haben«, so Kundish.
Genau das ist die Intention des künstlerischen Leiters Alan Bern. Immer wieder stellen sein Team und er sich die Frage: »Wo bewegt sich jiddische Kultur innerhalb der Verbindungen, Gemeinsamkeiten, Einflüsse in Melodie, im Klang der Instrumente oder des Gesangs und in der Art des Musizierens?«
»Das Besondere ist in diesem Jahr, mehr zu erfahren über die Verbindungen der griechischen, türkischen und jiddischen Musik und der vielen anderen, die sie beeinflussten. Diese Kulturen lebten verwoben über Hunderte Jahre im Kontext des Osmanischen Reiches«, sagt Alan Bern.
»Wenn man näher hinschaut, sieht man das und hört es auch«, betont er. Melodien, die in drei Musikkulturen vorkommen und jeweils anders gedeutet werden. »Man hat eine andere Klangfarbe, Emotionalität, Körperlichkeit, all diese Facetten sind für uns als Künstler und Künstlerinnen, egal woher wir kommen, faszinierend.«