»Das Kulturzentrum? Schauen Sie mal da hinten, dort, wo die Polizei steht«, erklärt eine Anwohnerin in Halle-Neustadt den Weg durch die Plattenbausiedlung. Zu Jom Kippur ist dieses Jahr vieles anders bei der Jüdischen Gemeinde in Halle. Dazu gehört, dass die Gemeinde ihre Gottesdienste coronabedingt nicht in der Synagoge feiern kann. Dazu gehört auch – bedingt durch den Anschlag im letzten Jahr –, dass die Behörden ein Sicherheitskonzept haben.
Das Kulturzentrum Halle-Neustadt ist ein schmuckloser Flachbau aus den 90er-Jahren: runde Fenster, viel Glas in farbiges Metall gefasst. Die Polizei ist vor Ort, die Beamten treten zurückgenommen auf, sind aber sichtbar präsent – nicht nur am Eingang, sondern auf allen Seiten des Gebäudes. Dazu gibt es eine private Security am Eingang.
Jeder, der zum Gottesdienst kommen wollte, musste sich im Vorfeld anmelden. Im Schnitt werden rund 50 Menschen zu den jeweiligen Gebeten erwartet – mehr als doppelt so viele, als in der Synagoge unter Einhaltung der Sicherheitsabstände Platz finden würden.
SICHERHEITSLAGE Am Eingang steht der Gemeindevorsitzende Max Privorozki und begrüßt die Ankommenden. Er kennt fast jeden persönlich, die Namen werden auf einer Liste abgestrichen – damit man weiß, wer da ist und wer gegebenenfalls fehlt.
Er ist zufrieden mit der Arbeit der Polizei, wie er zwei Tage später beim Interview sagt: »Es gibt jetzt eine andere Bewertung der Sicherheitslage – daher handelt die Polizei auch anders. Vor dem Anschlag wurde die Sicherheitslage falsch bewertet und dann auch dementsprechend falsch gehandelt.«
Vor Beginn von Kol Nidre ist die Stimmung etwas gedämpft, aber nicht wahrnehmbar nervös.
Auch die Zusammenarbeit mit der Behörde sei nun anders. »Die Polizei weiß jetzt immer, was bei uns los ist.« Und noch etwas hat sich geändert: Den Luxus der Unerreichbarkeit kann sich Privorozki nicht mehr leisten. Auch zu den Hohen Feiertagen bleibt das Handy in seiner Tasche an. Für den Notfall – oder wenn die Polizei ihn erreichen muss.
Der Saal des Kulturzentrums hat den Charme einer Schulaula: Linoleumboden, eine Bühne aus Holz und ein Belüftungssystem aus silbern glänzenden Rohren unter der Decke. Eine Reihe von Garderobenständern, die jemand mit blauen und weißen Tüchern behängt hat, trennt die Damen von den Herren. Tische dienen als Abstandshalter zwischen den einzelnen Sitzplätzen.
POLITIKER Vor Beginn von Kol Nidre ist die Stimmung etwas gedämpft, aber nicht wahrnehmbar nervös. Man kennt sich und bemüht sich, soweit es in einer Pandemie möglich ist, um Normalität. Die Menschen desinfizieren sich die Hände, bevor sie sich ein Gebetbuch nehmen, alle tragen Masken. Nur der Vorbeter wird seine abnehmen. Während seine Stimme durch den Saal schallt, sieht man durch die große Glasfassade mit Oberlicht, wie der regengraue Himmel über den Plattenbauten langsam schwarz wird.
Der Zeitpunkt ist mit Bedacht gewählt: Um 12.01 Uhr fielen vergangenes Jahr die ersten Schüsse.
Unter den Betern ist auch Christina Feist, die den Anschlag im vergangenen Jahr hier miterlebt hat – und extra aus Paris angereist ist. »Ich war davor schon sehr nervös«, sagt sie zwei Tage später im Rückblick. Aber: »Das war definitiv die richtige Entscheidung, nach Halle zu kommen.«
Am Montag um 12 Uhr ist auch Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff vor Ort, begleitet von Halles Oberbürgermeister Bernd Wiegand, dem Antisemitismusbeauftragten des Landes, Wolfgang Schneiß, dem evangelischen Landesbischof Friedrich Kramer und weiteren Kirchenvertretern.
Der Zeitpunkt ist mit Bedacht gewählt: Um 12.01 Uhr fielen vergangenes Jahr die ersten Schüsse. In einem kurzen Wortbeitrag ruft Haseloff zur Versöhnung auf, auch Bischof Kramer sagt ein paar Worte.
WORTHÜLSEN Privorozki begrüßt den Besuch des Ministerpräsidenten: Er habe seit dem Anschlag viele leere Worthülsen von Politikern zu hören bekommen. Haseloff sei da anders. »Er hat gesprochen wie ein Mensch«, sagt Privorozki.
Christina Feist dagegen kritisiert Haseloffs Auftritt als unpassend: Zwar sei es schön, dass Vertreter des Landes und der Kirchen an den Feierlichkeiten teilnahmen, doch hätte sie sich eine etwas stillere Solidarität gewünscht. Gerade an Jom Kippur wolle sie nicht von Vertretern der christlichen Mehrheitsgesellschaft im Gebet unterbrochen werden.
Doch die Politik spielte nur eine kleine Gastrolle an diesem Tag. Im Mittelpunkt stand das Gebet. Angesichts der Ereignisse vom vergangenen Jahr war das besonders wichtig.
entwarnung Vor allem, über den Punkt hinwegzukommen, an dem der Gottesdienst durch das Attentat unterbrochen wurde: »Ich konnte mich unbewusst noch genau an den Punkt im Gebet erinnern, an dem wir im vergangenen Jahr wieder angesetzt haben, nachdem die erste Entwarnung kam«, erzählt Feist.
»Als wir diesen Moment im Gebet in diesem Jahr übersprungen hatten, ging es mir um ein Vielfaches besser.«
Christina Feist, Beterin
»Und als wir diesen Moment im Gebet in diesem Jahr übersprungen hatten, ging es mir um ein Vielfaches besser, ich war erleichtert und dachte: ›Das Schlimmste ist vorbei, jetzt ist alles gut.‹« Und sie fügt an: »Ich habe Jom Kippur wiederbekommen, habe es mir zurückgeholt, das hat mir sehr, sehr gutgetan.«
Für Max Privorozki war der emotionale Moment ein anderer: »Vor einem Jahr hatten wir keine Gelegenheit, Neila zu beten, weil wir evakuiert wurden. Und als ich dieses Jahr die Gelegenheit bekommen habe, habe ich den Unterschied wirklich verstanden. Das war für mich ganz wichtig, dass ich Neila richtig und gut und zusammen mit vielen anderen Menschen gebetet habe.«