Mitten in die »Janusz Korczak Woche«, eine Herzensangelegenheit der Europäischen Janusz Korczak Akademie in München und datiert um den Internationalen Tag der Kinderrechte am 20. November, fiel der Global Day of Jewish Learning. Dem machte die Akademie Platz, öffnete ihre Türen, bot unter dem Motto »Gemeinsam gestalten« Vorträge in deutscher oder englischer Sprache an, denen jeweils engagierte Gespräche folgten.
Die Referenten kamen aus Israel und Russland. Inhaltlich ging es um Erziehung, natürlich um Janusz Korczak, aber auch um die »Xueta«, die Nachfahren der zum Christentum übergetretenen mallorquinischen Juden und deren jüdische Identität.
Das Interesse war groß, die Räume besetzt, zum einen mit Seminarteilnehmern, jüngeren Leuten aus München, Nürnberg, Augsburg, Berlin, Hamburg, Frankfurt, Bielefeld, so etwa 45 an der Zahl, sowie sechs Gästen aus St. Petersburg und Interessierten, die einfach, weil das Programm sie gelockt hatte, dazugestoßen waren.
Pädagogik Ein gemeinsamer Nenner beim Publikum könnte das Interesse an jüdischer Pädagogik und an Janusz Korczak sein. Da lag es nahe, sich nach einem Referenten umzusehen, der sich ausgiebig mit Janusz Korczaks Pädagogik beschäftigt hat, und den hatte man mit Michael Kirchner, einem Referenten aus Deutschland, gefunden. Kirchner, 1944 in Münster geboren, war erst Kinderarzt, bevor er sich der Pädagogik zuwandte. Heute hat er einen Lehrauftrag für Erziehungswissenschaft an der Universität in Bielefeld inne.
Sein Vortrag fiel in den Nachmittag. Nach einer schnellen Stärkung im Erfrischungsraum trafen immer mehr Teilnehmer im Saal ein, sodass kaum Platz für die Ehrengäste, den Vizekonsul Przemyslaw Gembiak vom Kulturreferat des Polnischen Konsulats in München und eine Teilnehmerin aus den Niederlanden, gab. Über die Anwesenheit des polnischen Vertreters freute sich der Veranstalter besonders. Für die russischen Zuhörer wurde simultan übersetzt.
Achtung Michael Kirchner stellte in seinem klar gegliederten Vortrag zwei Begriffe »als Grundlage der Pädagogik Janusz Korczaks« in den Mittelpunkt: Achtung und Anerkennung. Sich mit Korczak auseinanderzusetzen, diesem Provokateur, diesem »radikalen Pädagogen«, sei gefährlich, warnte er, weil das dazu führen könne, alles, »auch sich selbst«, infrage zu stellen. Außerdem bestehe die Möglichkeit, sich mit der Spannung zu »infizieren«, die er selbst in sich auszuhalten gehabt habe. Kirchner stimmte die Hörer in die pädagogische Gedankenwelt Korczaks ein, begleitet von Zitaten und sympathisierend, sodass alles, was er sagte, Appellcharakter erhielt, was der Pädagogik wahrscheinlich nur guttun kann: Erziehung sei allzu sehr bestrebt, ein »bequemes Kind herauszubilden«.
Es gebe kein unreifes Heute, keine Hierarchie des Alters. Das Kind wisse mehr über sich als der Erwachsene, für den einen stelle es so etwas wie »Hieroglyphen« dar, für den anderen ein Faszinosum. Das bedeute aber auch, dass das Fremde, das das Kind vermittle, ausgehalten werden müsse, »sonst erziehen wir nur nach uns«. Und das sei schließlich etwas ganz Neues, eine Pädagogik, die vom Kind ausgehe, etwas Neues bis heute. Es werde ja viel geredet über die Emanzipation des Kindes, Theorien dazu gebe es genug.
Mit der Praxis aber, in den Aktionen, wie ein »Kinderparlament« und Ähnliches zur Schau gestellt werden, habe das nichts zu tun. Das seien »Feigenblätter«. Dass Korczaks Thesen wenig attraktiv erscheinen, ja ihm vorgeworfen werde, er sei in der Gesellschaft nicht angekommen, könne möglicherweise daran liegen, dass er von den Erwachsenen viel verlange: Zeit, Geduld, Umdenken. Außerdem werde in der Folge seiner Pädagogik an den Grundfesten der Gesellschaft erheblich gerüttelt. Darüber hinaus seien wir ein wenig hungrig nach Ideologien, die Janusz Korczak eben nicht liefert. »Janusz Korczak will Geduld und keine Pädagogik, die aus der Hüfte schießt«, fasst Kirchner zusammen.
Bildung Schließlich sind fast 90 Minuten vergangen, die Teilnehmer haben gebannt zugehört, erst jetzt fällt ihnen auf, wie stickig die Luft im kleinen Raum geworden ist. Fragen können gestellt werden. Eine junge Teilnehmerin möchte wissen, wie das überhaupt mit der Bildung aussah in den Waisenhäusern von Janusz Korczak, ob er sich auch mit dem leidigen Thema Schule zu befassen hatte. Nein, hatte er nicht, erklärt der Pädagogikprofessor aus Bielefeld, Schule fand außerhalb statt.
Die Teilnehmerin aus den Niederlanden zeigte sich empört darüber, dass sie bis heute immer noch beobachten könne, dass Kinder abschätzig behandelt würden: »Kein bisschen individuell, kein bisschen kindgemäß, auch in den Schulen wird man der natürlichen Art eines Kindes kaum gerecht.« Dem konnte Kirchner nur zustimmen.
Freiräume Auf die Anmerkung hin, ein Kind, dem man seine Freiräume im Sinne Janusz Korczaks gegeben habe, könne schnell in Konflikt mit der Gesellschaft um es herum geraten, bestätigte Kirchner: Eben das hätten viele Zöglinge von Janusz Korczak im späteren Leben auch zu spüren bekommen, und das habe sich der Arzt und Pädagoge auch häufig vorwerfen lassen müssen.
Oren Osterer, Programmdirektor der Akademie und Moderator des Nachmittags, verwies schließlich darauf, dass sich die Fähigkeiten der Kinder, die sich nach Korczak durchaus mit denen der Erwachsenen messen könnten und Beachtung verdienten, heute längst ihren Raum geschaffen hätten. Was die neuen Medien anbelangt, seien es ja die Kinder und Jugendlichen, die der neuen Technik dicht auf den Versen blieben. Und nicht die Erwachsenen.