Auf magische Art und Weise haben es alle drei Kinder in unser Bett geschafft. Der Wecker hat schon ein paarmal geklingelt. Ich schalte ihn eine halbe Stunde zu spät aus. Jetzt muss alles ganz schnell gehen. Während ich die Kinder anziehe, füllt William, mein Mann, die Lunchboxen. Danach bringen wir unsere zwei Mädels Anita und Esther in den Kindergarten. Wieder zu Hause angekommen, wechseln mein Mann und ich uns mit dem Halten von Felix, unserem Jüngsten, ab. Ich schnappe mir den Laptop, lese das Neueste vom Tag und schreibe dann an meiner Masterarbeit weiter. So sieht ein typischer Morgen für unsere gar nicht mal so kleine Familie in unserer Wohnung in Berlin-Siemensstadt aus.
Ich wohne gerne hier im Norden von Charlottenburg. Der Park Jungfernheide ist nur einen Steinwurf entfernt. Bei schönem Wetter gehen wir hier sehr gerne spazieren oder auf den Spielplatz. Ich bin gebürtige Berlinerin. Aufgewachsen bin ich in Wilmersdorf. Ich definiere mich nicht gerne als Deutsche, aber ich verstehe mich als stolze Berlinerin. Ich denke, Charlottenburg-Wilmersdorf ist der jüdischste Bezirk von allen. Es gibt hier Orte wie den Olivaer Platz, wo du eigentlich immer Juden über den Weg läufst.
familie Ich bin jetzt 25 Jahre alt. Ich stamme aus einer sehr jüdischen Familie. Mein Vater ist Kantor in der Synagoge Rykestraße und aktives Gemeindemitglied. Meine Mutter ist Tochter von Schoa-Überlebenden und wurde in Tel Aviv geboren. Aufgewachsen ist sie aber in Westberlin. Ihre Mutter, meine Savta, entstammte einer sefardischen Familie aus Bulgarien.
Mein Großvater kam aus einer aschkenasischen Familie aus Österreich. Er hat das Ghetto Stanislau im damaligen Polen überlebt. Nach dem Krieg wurde er von den Briten zunächst an der Auswanderung in das damalige Mandatsgebiet Palästina gehindert und in ein Auffanglager auf Zypern gesteckt. Nach Deutschland kam er 1966, um in einem Kriegsverbrecherprozess auszusagen. Leider habe ich nie die Chance gehabt, persönlich mit meinem Großvater zu sprechen.
Religion und Tradition haben mich und meine drei Geschwister in unserer Jugend geprägt. Schabbat und die Feiertage wurden bei uns zu Hause immer groß gefeiert. Mein Vater hat uns viel über Tora und jüdische Philosophie gelehrt, während meine Mutter uns mit jüdisch-mütterlicher Liebe überschüttet hat. Selbstverständlich hat auch die Musik eine wichtige Rolle gespielt, und sie spielt es für mich auch heute noch. Ich spiele selbst Klavier und Gitarre. Am liebsten singe ich.
schule In meiner Schulzeit habe ich Erfahrung mit Antisemitismus gemacht. Ich bin in den jüdischen Kindergarten gegangen und später auf nichtjüdische Schulen. Wenn im Geschichtsunterricht die Schoa thematisiert wurde, haben immer alle auf mich geguckt und mich gefragt, was denn ich als Jüdin zu dem Ganzen sagen könne. Als Jüdin wurde und werde ich auch immer wieder nach meiner Meinung zum Nahostkonflikt gefragt.
Zudem habe ich mich schon als Jugendliche für Politik interessiert. Da war es für mich naheliegend, Politikwissenschaft zu studieren. Bereits während meines Vorstudiums in Tel Aviv habe ich mich intensiv mit dem Nahostkonflikt beschäftigt. Dort habe ich auch Hebräisch gelernt.
Ich habe mich dann für ein Bachelor-Studium an der Londoner School of Oriental and African Studies entschieden. London hatte mich schon während meiner Zeit als Au-pair fasziniert. Danach habe ich ein Masterstudium in Internationalen Beziehungen in Berlin und Potsdam begonnen. Ich finde es spannend, mich mit Themen zu befassen, die mich nicht in Ruhe lassen und die nicht leicht zu verstehen sind.
Zu Israel habe ich eine besondere Beziehung. Der jüdische Staat war der Zufluchtsort für meine Großeltern. Ich liebe das Land und die Menschen. Die aktuelle Regierung kritisiere ich aber leidenschaftlich gerne. Ich glaube, solange auf der einen Seite Hamas und Co. und auf der anderen Leute wie Lieberman an der Macht sind, kann es keinen nachhaltigen Frieden geben.
nahostkonflikt Neben dem Nahostkonflikt interessiere ich mich für die Politik Afrikas und der Karibik, für Internationale Beziehungen und die Frage, welche Rolle Identitäten in diesen Prozessen spielen. Ich denke über alles sehr politisch nach. Dass ich in Deutschland selbst Mitglied einer religiösen Minderheit bin, spielt dabei bestimmt eine entscheidende Rolle.
Ich sehe mich als Sozialdemokratin, bin in der SPD organisiert. Als Studentin in London habe ich mich im jüdischen Studentenverband und als Antisemitismusbeauftragte der Universität engagiert.
Da ich ein sehr musikalischer Mensch und durch meinen Vater bestens mit der Welt der jüdischen Musik vertraut bin, wollte ich immer auch die Musik anderer Religionsgruppen kennenlernen. In der multikulturellen Metropole London kam mir dann die Idee, ein interreligiöses Musikfestival an der Universität zu organisieren.
Unter meinen Kommilitonen waren sehr viele Sikhs, Hindus und Muslime. Und doch wusste ich nicht sehr viel über deren Religionen. Alle blieben mehr oder weniger unter sich. Mit dem Musikfestival wollte ich in erster Linie die Studenten zusammenbringen. Wie funktioniert das besser als über Musik? Musik verbindet Menschen und berührt das Herz.
Das Festival war ein überraschender Erfolg. Es kamen nicht nur Studenten, sondern auch viele Mitglieder aus den Gemeinden. Eigentlich als einmaliges Event gedacht, hat sich daraus inzwischen eine ganze Reihe und meine internationale Initiative Faiths In Tune entwickelt. Die Idee habe ich dann auch mit nach Berlin gebracht. Anfang Juli fand das erste interreligiöse Musikfestival in Berlin-Neukölln statt.
karibik Meine Zeit in London war aber auch unter einem anderen Gesichtspunkt eine fantastische Erfahrung. Hier habe ich meinen Mann William kennengelernt. Er ist Koch und in der Dominikanischen Republik aufgewachsen. 2013 haben wir in seiner Geburtsstadt La Romana unter Palmen geheiratet. Dass uns ein Rabbiner getraut hat, war mir wichtig. William selbst ist katholisch erzogen worden. Da war es ein glücklicher Zufall, dass der Rabbiner vor Ort auch eine Lizenz zur Trauung in der christlichen Tradition besaß.
Wir beide sind nicht streng religiös. William sagt immer: Wir sind nicht religiös, sondern spirituell. Eine Konversion würde ich von ihm niemals verlangen, aber ich freue mich, dass er dem Judentum sehr offen gegenübersteht. Ich glaube, für ihn als Christen ist es nicht so schwer, das Judentum zu verstehen. Wir haben dieselben Glaubensgrundsätze.
Mein Judentum erlebe ich vor allem ethisch-kulturell. Die 613 Ge- und Verbote interessieren mich nicht so sehr wie die Werte und das kulturelle und geschichtliche Erbe unserer Tradition.
tikkun olam Verstanden als Aufruf, die Welt zu verbessern, stimmt das Konzept von Tikkun Olam mit meiner Lebensphilosophie überein. In die Synagoge gehe ich regelmäßig. In Berlin gehe ich in jede Synagoge, solange Frauen nicht durch abgeschirmte Gebetsbereiche benachteiligt werden. Bei der Erziehung unserer Kinder ist es mir wichtig, dass sie jüdische Werte vermittelt bekommen. Also dass sie in den jüdischen Kindergarten gehen und Bar- beziehungsweise Batmizwa werden. Mit William spreche ich Englisch und mit den Kindern Deutsch. Er spricht mit ihnen Spanisch. Wir erziehen sie dreisprachig.
Für die Zukunft wünsche ich mir, dass meine Familie und ich unsere Träume verwirklichen können. Global gedacht, hoffe ich, dass der Hass und die Ablehnung des anderen, die sich in so vielen Ländern wieder offen artikulieren, endlich beseitigt werden. Berlin ist meine Heimat, aber ich bin eine Weltenbummlerin.
Ich plane, das interreligiöse Musikfestival auch nach New York und in andere Städte zu bringen. Zuhause ist letztlich dort, wo die Menschen sind, die du liebst. Nach meinem Masterabschluss habe ich noch viel vor. Ich wünschte nur, dass der Tag 48 Stunden hätte. Dann könnte ich vielleicht alles das erledigen, was ich mir vornehme.