Nachdem Mirjam Pressler am 16. Januar 2019 nach langer schwerer Krankheit starb, titelte die »Süddeutsche Zeitung« am nächsten Tag: »Die unermüdliche Schriftstellerin und Übersetzerin ist im Alter von 78 Jahren gestorben«. Die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« verstieg sich zu der Floskel: »Ein Leben aus Sprache. Die Verantwortung der Literatur für den Blick auf die Welt«.
Chronistin Für die »Abendzeitung« hatte die Verstorbene »Das wahre Leben jenseits der Märchenwelt« beschrieben, was auch dem Berliner »Tagesspiegel« im Sinn stand, der die »Chronistin beschädigter Kindheiten« betrauerte. Auch die jüdischen Medien standen dem nicht nach.
Mirjam Pressler
mochte Tiere,
vor allem Katzen.
Im Züricher »tachles« titelte der Chefredakteur Yves Kugelmann, der Mirjam Pressler als Stiftungsrat im Anne-Frank-Fonds Basel kennen- und schätzengelernt hatte: »Literatur als Lebensweg zu Menschen«, während die Jüdische Allgemeine sachlich konstatierte: »Sprache war ihr Leben«.
Gedenken Ich hatte das Glück, Mirjam Pressler näher zu kennen, und verdanke ihr über die Jahre Sternstunden im Kulturprogramm der Israelitischen Kultusgemeinde. Wie war das Gedenken an diese kluge, hilfsbereite, zugewandte, lebenslustige wie lebensbejahende, unglaublich fleißige Frau, inniger Familienmensch, originelle Schriftstellerin, engagierter Buch-Scout und akribische Übersetzerin gestaltet?
Am besten so, wie sie es seit 1980, als ihr erstes Jugendbuch Bitterschokolade erschien, selbst hielt: vielfältig und in Bewegung, so wie Mirjam Pressler im wörtlichen wie im übertragenen Sinne immer gewesen war. Also über Bücher und Erinnerungen ihr nahestehender Menschen.
Schreiben war für sie so wichtig wie die Luft zum Atmen und die Zigarette zum Konzentrieren oder Entspannen. Für jeden anderen undenkbar, für Mirjam Pressler war es ein machbares Wunder, einen Krankenhausaufenthalt wegen einer lebensbedrohenden Erkrankung mit dem Beginn der Arbeit an ihrem Katzenroman Ich bin’s, Kitty zu verbinden. Danach nahm sie ihr Romanprojekt rund um einen 1998 in der Erfurter Altstadt geborgenen Schatz wieder auf.
Leseproben All das und noch viel mehr wurde bei der Hommage an Mirjam Pressler erwähnt, bei der auch Tochter Gila und Enkelin Malka Yolanda aus dem Roman Dunkles Gold lasen.
Frank Griesheimer, seit fast 30 Jahren Presslers Lektor für die Kinder- und Jugendbücher im Beltz-Verlag, wagte ein Resümee, das er zu Lebzeiten der Autorin nie gewagt hätte: »Mirjam war ein Genie.«
Schreiben war für sie so wichtig wie die Luft zum Atmen und die Zigarette zum Konzentrieren oder Entspannen.
Sie hatte ein natürliches Sprachempfinden, das durch die jahrelange Arbeit – an manchen Tagen bis zu zehn Stunden – noch geschärft war. Sie konnte, wie ihre älteste Tochter Ronit in einer Gesprächsrunde mit ihm und der Lektorin Nadine Meyer bestätigte, jederzeit den Arbeitsmodus aktivieren, egal, wie viel Trubel im Hause herrschte.
Noch im letzten Sommerurlaub 2018 arbeitete sie intensiv am Manuskript von Dunkles Gold. Nicht nur die Lektoren, auch die Familie bekam jedes neue Kapitel zu lesen.
Griesheimer, der den Entstehungsprozess dieses Romans über Jahre begleitete, berichtete von ihrem Ringen um die richtige Form. Vom historischen Roman sei sie abgekommen und habe Fahrt aufgenommen, als sie sich für zwei Erzählstränge entschied. Einen im Jahr 1349, wo sie die fiktive Geschichte von Rachel ansiedelt, deren Vater, ein angesehener jüdischer Kaufmann, kurz vor dem Pestpogrom den Familienbesitz im Keller einmauert.
Und einen in der Gegenwart, wo die 15-jährige Laura einen jüdischen Mitschüler namens Alexej kennenlernt und ihr die Augen aufgehen über Ausgrenzung, Rassismus und Judenfeindlichkeit. So ist es ein zeitgeschichtlich hochaktueller Roman geworden. Man kann ruhig sagen: ein Vermächtnis.
Sprachgefühl Ebenso faszinierend war die Zusammenarbeit mit Mirjam Pressler als Übersetzerin. Nadine Meyer begegnete ihr vor rund 18 Jahren im Suhrkamp-Verlag. Pressler habe ein unglaubliches Sprachgefühl gehabt und eine Sorgfalt walten lassen, die sie mit präzisen Recherchen nicht nur den eigenen Büchern, sondern auch denen anderer Autoren beim Übersetzen angedeihen ließ.
Sie hatte ein natürliches Sprachempfinden.
Zu vielen von ihnen entwickelten sich Freundschaften wie etwa zu der israelischen Autorin Lizzie Doron. Unvergesslich ist auch der gemeinsame Erfolg von Amos Oz als Autor des Romans Judas 2015 auf der Leipziger Buchmesse, für den Mirjam Pressler gleichzeitig den Übersetzerpreis erhielt.
trost Mirjam Pressler mochte Tiere, vor allem Katzen. Gegen Lebensende tröstete sie ihre Familie: »Ich hatte meine sieben Leben. Es ist okay.« Die jüngste Tochter Tall fragte sich, in welchen ihrer Bücher sich diese sieben Leben finden ließen. Ein »Kind ohne Namen« zu sein, »ohne Familie, ohne Herkunft« fand sie in Nathan und seine Kinder.
In ihrem zweiten Leben »wusste Mirjam um ihre Herkunft«, erlebte eine beschädigte Kindheit, abgeschoben, wie in Novemberkatzen. Zum »Aufbruch in ein selbstbestimmtes Leben« passt das Buch Wenn das Glück kommt. Das vierte Leben gehörte dem Bildhaften, denn bevor die Autorin zum Wort fand, hatte sie Malerei studiert, was auch in ihrem letzten Roman eine Rolle spielt.
Worte zu finden, darin war sie seelenverwandt mit Anne Frank.
In Für Isabel war es Liebe kam schon vor über 20 Jahren eine Krebserkrankung zur Sprache, und in Ich bin’s, Kitty wird das Sterben thematisiert. Dabei setzte sie, so erzählte Presslers jüngste Tochter, die »Destruktivität des Verfalls konsequent in Kreativität um«.