Von meiner Mutter hat man mich weggenommen.» Ein so betitelter jiddischer Tango aus dem Jahr 1930 macht deutlich, wie die Suche nach einem besseren Leben in der Neuen Welt für nicht wenige junge Jüdinnen in der Zwangsprostitution endete. «Tausende Frauen jährlich wurden mit falschen Versprechungen aus den Schtetln gelockt und landeten in den Bordellen von Buenos Aires, New York oder Shanghai», sagt Elianna Renner. Im Rahmen des Projekts «Tracking the Traffic» thematisiert die Bremer Künstlerin seit einigen Jahren die weit verzweigte Geschichte des Frauenhandels im 19. und 20. Jahrhundert. Nun würdigt sie mit einer eigenen App eine zentrale Person im Kampf dagegen: Bertha Pappenheim.
In Frankfurt am Main sah sich die 1859 geborene Pappenheim erstmals mit der Not der osteuropäischen Emigrantinnen konfrontiert. Dazu gehörte auch die Prostitution – vor Ort, in den Herkunftsländern oder später in der Neuen Welt. Während ihres zunächst rein wohltätigen Engagements erkannte Pappenheim schnell, dass Almosen allein nicht genügen. Zedaka bedeutete für sie nun, die Betroffenen über Bildung, Beratung oder Arbeitsmöglichkeiten in die Lage zu versetzen, auf eigenen Beinen zu stehen.
Zentralwohlfahrtsstelle 1904 gründete sie zusammen mit Sidonie Werner den Jüdischen Frauenbund. 1917 gaben beide den äußeren Anstoß zur Gründung der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland, in dessen Vorstand sie auch aktiv waren. Nicht zuletzt etablierte Pappenheim mit dem Mädchenwohnheim Neu-Isenburg bei Frankfurt 1907 einen Schutzraum für sozial gefährdete jüdische Jugendliche, alleinstehende Schwangere und ledige Mütter.
Aufgewachsen im großbürgerlichen Wien, sollte Pappenheim als «Frl. Anna O.» in die Geschichte der Psychoanalyse eingehen. Nach dem Umzug nach Frankfurt im Alter von 29 Jahren erwähnte sie ihre Therapie durch Joseph Breuer jedoch nie mehr. Die Identität von Anna O. und Bertha Pappenheim wurde erst lange nach ihrem Tod durch den Freud-Biografen Ernest Jones bekannt. «Viele Spekulationen ranken sich seitdem um Pappenheims Krankheit, ihre psychiatrische Behandlung und deren Auswirkungen auf ihr späteres Leben», sagt Renner. «In der App lege ich deshalb den Schwerpunkt auf ihre Frankfurter Zeit. Ich möchte verdeutlichen, was für eine vielseitige, manchmal auch widersprüchliche, aber vor allem politisch wichtige Persönlichkeit Bertha Pappenheim war.»
Pappenheim kämpfte gegen den Frauenhandel nicht nur in Organisationen und als Rednerin auf internationalen Kongressen. Sie unternahm auch Forschungsreisen nach Osteuropa, wo sie Bordelle besuchte und Kontakt zu Opfern von Zwangsprostitution aufnahm. So entstanden Veröffentlichungen wie Zur Lage der jüdischen Bevölkerung in Galizien (1904). Zudem übersetzte Pappenheim Werke wie Mary Wollstonecrafts feministischen Klassiker Verteidigung der Rechte der Frauen von 1792 ins Deutsche – wie zu jener Zeit üblich unter männlichem Pseudonym. Zeit ihres Lebens war Pappenheim religiös und versuchte, Feminismus und Judentum zu verbinden. Für sie waren es die Frauen, die die religiösen Kenntnisse weitergeben sollten und aufgrund der Matrilinearität des Judentums für dessen Fortbestand sorgten.
Rundgang Elianna Renners App ermöglicht es, in einem etwa 60-minütigen Rundgang zentrale Wirkungsstätten Pappenheims in der Frankfurter Innenstadt kennenzulernen. Gleichzeitig will Renner auch den jüdischen Alltag im 20. Jahrhundert in den Blick nehmen. Häufig werde die Geschichte des deutschen Judentums auf die Verfolgung während des Nationalsozialismus reduziert, sagt die Künstlerin. So gerate in Vergessenheit, dass jüdisches Leben einen bedeutenden Teil der gesamten deutschen Geschichte darstellt.
Dazu gehört auch die jahrhundertealte Judenfeindschaft. Während des Rundgangs werden deshalb auch Artefakte der antisemitischen Alltagskultur präsentiert. So wurde in der europäischen Presse der gesamte Frauenhandel regelmäßig als «jüdisch» deklariert und behauptet, alle Zuhälter seien Juden. Daneben vertrieb ein Hotel am Frankfurter Zentralbahnhof zur Zeit der Emigration eigene Postkarten mit Texten wie: «Gruß aus dem Kölner Hof. Einzig judenfreies Hotel in Frankfurt a.M.».
Ein weiterer Bestandteil des Stadtrundgangs ist neben Pappenheims Wohnhaus die Historie der jüdischen Bahnhofshilfe. Deren Ziel war es, alleinreisende junge Frauen aufzufangen, bevor Zuhälter sie kontaktieren konnten. Die jüdische Bahnhofshilfe hatte ihre Räume direkt im Zentralbahnhof. Dadurch existierte, ähnlich wie in Hamburg oder Berlin, ein pragmatischer Austausch mit der christlichen Bahnhofsmission, die sich ebenfalls um Frauen sorgte, die ohne Begleitung unterwegs waren.
«Über Notsituationen und Kriminalität lassen sich Erkenntnisse über das alltägliche Leben gewinnen», erklärt Renner
ihre künstlerische Herangehensweise. Dies zeigt sich auch bei «La organización», eine weitere Arbeit im Rahmen von «Tracking the Traffic». Die Videoinstallation thematisiert die Geschichte von Zwi Migdal, ein weltweit agierender jüdischer Zuhälterring mit Sitz in Buenos Aires. Aufgrund des Ausschlusses aus der dortigen Gemeinde musste Zwi Migdal eine eigene religiöse Infrastruktur mit Gemeinde, Synagoge und Friedhof aufbauen.
Frauenhandel Besonderes Augenmerk von Renners Arbeit liegt auf der Biografie von Raquel Liberman (1900–1935). Die junge jüdische Emigrantin wurde in der argentinischen Hauptstadt in die Prostitution gezwungen, versuchte zunächst vergeblich, sich zu befreien, und trug später entscheidend dazu bei, den Zuhälterring zu zerschlagen. Heute ist sie weitgehend vergessen, ähnlich wie Leopold Rosenak (1868–1923), der sich als Bremer Stadtrabbiner gegen den Frauenhandel engagierte.
Unbekannt ist Bertha Pappenheim in Deutschland gewiss nicht. Doch im Frankfurter Alltag hat die jüdische Sozialaktivistin noch keinen ihren Verdiensten gebührenden Platz, meint Renner. Dies will sie mit dem per App vermittelten Stadtrundgang ändern, den sie gemeinsam mit der Jungen Akademie Berlin und der Frankfurter Judaistin Rebekka Voß zusammenstellt. «Die App bewegt sich an der Schnittstelle von Wissenschaft, Kunst und Gesellschaft. So wird Geschichte im urbanen Raum greifbar – und auch für NutzerInnen ohne Vorkenntnisse zugänglich.»