Zwei Fälle von Körperverletzungen, Volksverhetzungen, sogenannte Propagandadelikte mit Plakaten scheußlichsten Inhalts, Diffamierungen der Israelflagge, Schmierereien an Synagogen und auf jüdischen Friedhöfen und übelste Beleidigungen: 136 antisemitische Straftaten registrierte die Polizei in Baden-Württemberg im Jahr 2018, 37 mehr als im Jahr zuvor. »Wir nehmen diese Signale für einen zunehmenden Antisemitismus wahr, aber nicht hin, denn der Schutz jüdischer Menschen ist und bleibt unsere vordringlichste Aufgabe«, betont Thomas Strobl, stellvertretender Ministerpräsident und Innenminister von Baden-Württemberg.
Der Fachtag, den die Landesregierung zusammen mit der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württemberg (IRGW) im Zeichen von Konex – gemeinsam gegen Extremismus – unter dem Titel »Antisemitismus, Jüdisches Leben in Deutschland zwischen Sicherheit und Unsicherheit« in Stuttgart veranstaltet hat, stellt eindrucksvoll die klare Haltung und den bedingungslosen Einsatz des Landes gegen die Bedrohung der Juden »von rechts wie von links«, so Strobl, dar.
Polizei Im Gemeindehaus der IRGW, bewusst als Tagungsort gewählt, kann Susanne Jakubowski vom Vorstand nicht nur viele Abgeordnete von Stadt und Land begrüßen, sondern auch Generalstaatsanwalt Achim Brauneisen, die Spitze der Polizei mit Präsident Gerhard Klotter und Landeskriminaldirektor Klaus Ziwey und dazu den Nachwuchs mit Schülerinnen und Schülern der Polizei. »Der Antisemitismus frisst uns von innen auf, aber erstmals stehen wir mit dieser Bedrohung nicht allein da«, stellt Susanne Jakubowski fest.
Verschwörungstheorien machen die Runde: Klimaaktivistin Greta Thunberg sei eine Marionette von Juden.
Tagtäglich, berichtet Michael Blume, Antisemitismusbeauftragter der Landesregierung, werde er mit Verschwörungstheorien konfrontiert, die das Muster der alten Mythen gegen Juden wiederholen. Wie diese, gerade aktuell im Internet verbreitete: Dass Klimaaktivistin Greta Thunberg eine Marionette von Juden wie Georg Soros sei. Oder Kanzlerin Angela Merkel – vermutlich selbst jüdisch – auf jeden Fall von Juden gesteuert werde. Per Chip offenbar, denn ihre Anfälle von Zittern hätten eine Panne dieses Steuerungssystems offenbart. Man brauche auch Humor, um bei solchen unglaublichen Geschichten nicht zu verzweifeln, sagt der Historiker und Theologe, der mit einer Muslima verheiratet ist und dessen Kinder christlich-muslimisch erzogen werden.
Plakate »Warum ist der alte Hass wieder da?«, fragt Blume voller Entsetzen über Plakate einer rechtsradikalen Gruppierung mit der Aufschrift: »Die Juden sind unser Unglück«, oder: »Wir hängen nicht nur Plakate«. »Diese Parteien«, prophezeit Blume, »werden in den kommenden Wahlkämpfen an die Grenzen gehen, und ich will nicht, dass hier bald wieder Braunhemden die Macht übernehmen.«
Das zu verhindern, leistet Blume unermüdlich Öffentlichkeits- und Aufklärungsarbeit. »Immer in vollen Häusern.« Und aus jeder Schule komme die dringende Bitte um mehr Bildungsmaterial und neue Forschungserkenntnisse auch zur Schoa. Damit nicht mehr – wie jetzt – jeder fünfte Jugendliche mit dem Begriff Auschwitz nichts mehr anfangen kann. »Lassen Sie uns Demokraten sein«, richtet Blume einen flammenden Appell an die Zuhörer. »Und erlauben Sie den Juden, Menschen zu sein.«
1928 Daran, wie schnell die politische Rechte ans Ruder kommen könnte und der Antisemitismus die Oberhand gewinne, erinnert auch Rami Suliman, Vorsitzender des Oberrates der IRG Baden und Mitglied im Direktorium des Zentralrats der Juden in Deutschland. Noch 1928 habe die NSDAP 2,6 Prozent der Stimmen errungen, »und fünf Jahre später war die Machtergreifung. Wir sind nicht weit davon«, warnt Suliman. Persönlich fühle er sich zwar sicher und sei auch überzeugt, »dass die Mehrheit der Bevölkerung heute anders denkt«. Aber: »Wehret den Anfängen.«
Juden als Nachbarn sind willkommen, im engeren Familienkreis schon sehr viel weniger, besagt eine Umfrage von 2018.
Herauszufinden, wie die Leute denken, ist die Aufgabe des Zentrums für Antisemitismus-Forschung an der TU Berlin, gegründet 1982. Laut einer Umfrage aus dem vergangenen Jahr in 15 westeuropäischen Ländern zur Akzeptanz von Juden als Nachbarn und Familienmitgliedern haben 86 Prozent der Deutschen nichts gegen einen jüdischen Nachbarn, zitiert Mathias Berek ein Ergebnis. Einen Juden als (neues) Familienmitglied zu akzeptieren, falle schon schwerer: Nur 69 Prozent sagen dazu Ja.
Umfragen Und die Frage »Können Sie Juden leiden?« beantworten elf Prozent unverblümt mit: »Nein!« 61 Prozent der Deutschen glauben, dass der Antisemitismus in den letzten Jahren zugenommen hat, aber insgesamt, so Berek, offenbarten Umfragen seit 2002 einen signifikanten Rückgang antisemitischer Einstellungen. Sowohl zu den bekannten Vorurteilen wie »Juden haben zu viel Macht« wie auch zur Vermengung von Juden und israelischer Politik.
Statistiken sind jedoch das eine, subjektives Empfinden das andere. Denn 78 Prozent der Juden nehmen nach einer Befragung von 2017 eine steigende Bedrohung wahr. Für Landeskriminaldirektor Klaus Ziwey ist das abnehmende Sicherheitsgefühl der Juden in Deutschland ausschlaggebender als die aktuelle Zunahme von antisemitischen Delikten um 20 Prozent.
Juden sollen sich vor allem sicher fühlen können, sagt Landeskriminaldirektor Klaus Ziwey.
»Hier stellen wir Wellenbewegungen fest, mal mehr, mal weniger. So verabscheuungswürdig diese Delikte sind, sehen wir unsere Aufgabe im Schulterschluss mit dem Innenministerium darin, dass sich Juden hier sicher fühlen.« Darum habe man für den engen Kontakt mit den jüdischen Gemeinden eigene Ansprechpartner installiert. Vor allem appelliert Ziwey alle Bürger, jeden antisemitischen Vorfall zu melden: »Keine falsche Hemmung, dafür ist Ihre Polizei da.«
Gesellschaft »Der Antisemitismus richtet sich nicht nur gegen Juden, sondern gegen die ganze demokratische Gesellschaft«, stellt Barbara Traub, Vorstandssprecherin der IRGW und Präsidiumsmitglied des Zentralrats, fest. »Daher geht er uns alle an, und daher sind wir alle aufgerufen, dagegen aufzustehen. Dieser Tag ist ein Zeichen für gegenseitiges Vertrauen.«
»Dass heute wieder jüdisches Leben hier und in ganz Deutschland stattfindet, ist ein großes Geschenk«, dankt Strobl: »Ihr Schutz ist uns Staatsauftrag.« Juden persönlich zu kennen, senke die Wahrscheinlichkeit antisemitischer Einstellungen, hat auch die Forschung laut Berek erkannt.
Genau das ist der Grund, dass der Fachtag in den Räumen der IRGW stattfindet. Um Begegnungen und Gespräche mit Gemeindemitgliedern zu ermöglichen, jüdisches Leben kennenzulernen, die Kinder aus Kindergarten und Schule zu erleben und die Synagoge zu besuchen, geführt von Rachel Dror. Die 1921 in Königsberg Geborene, die ihre Eltern in Auschwitz verlor, nach Palästina emigrierte, im jungen Staat Israel Polizistin war und sich seit ihrer Rückkehr nach Deutschland »in den Dienst der Versöhnung gestellt hat«, nannte Georg Strobl ein »riesengroßes Vorbild«.