Ich wurde in Berlin geboren – mein Vater war Israeli, meine Mutter ist Deutsche. Aufgewachsen bin ich in Berlin-Schöneberg, am Nollendorfplatz. Als ich ein kleines Kind war, ist meine Mutter mit mir zur musikalischen Früherziehung gegangen. Wir sahen dort eine andere Mutter mit ihrer Tochter, ungefähr im gleichen Alter wie ich.
»Die sprechen ja Hebräisch«, sagte ich. Aber meine Mutter meinte, das könne nicht sein. Damals waren Israelis in Berlin nicht so präsent wie heute. Wir sind dann zu ihnen hinübergegangen, und es stellte sich heraus, dass sie tatsächlich Hebräisch sprachen. So habe ich meine erste israelische Freundin kennengelernt.
SPRACHEN Meine Mutter war Übersetzerin für Französisch, Spanisch und Englisch, sie hat mich bilingual Deutsch und Englisch erzogen. Sie spricht auch ein bisschen Hebräisch, da sie eine Zeit lang in Israel gelebt hat, aber nicht so gut wie die anderen Sprachen, die spricht sie fließend. Zu Hause haben wir Englisch und Deutsch gemischt geredet, und wenn es emotional wurde, dann kamen hebräische Wörter dazu. Kauderwelsch ist, glaube ich, die beste Beschreibung dafür. Von außen war es wohl sehr schwierig zu verfolgen, was gerade passierte, wenn wir uns unterhalten haben.
Mein Vater wurde 1939 in Breslau geboren. Ich hatte also einen relativ alten Vater. Er ist noch im selben Jahr mit seiner Familie nach Bolivien geflohen und dann relativ jung nach Israel ausgewandert. Er hat sich immer als Israeli verstanden. Meine Mutter hat in den 70er-Jahren eine Weile in Israel gearbeitet. Sie ist danach immer wieder zurückgekehrt, um Freunde zu besuchen, und hat so meinen Vater kennengelernt.
Wenn man dazugehört, ist es wichtig, dass man auch mitreden kann.
Meine Mutter war unglaublich neugierig. Sie hat für ein Tourismusbüro gearbeitet und ist überall hingereist. Sie war in Afghanistan, hat in Sri Lanka gelebt, sie ist einfach überallhin. Dass sie nach Israel fuhr, war nichts Philosemitisches, das war einfach Neugier. Sie hat dort sehr spannende Erfahrungen gemacht, gerade als Deutsche. Sie war mit 19 oder 20 zum ersten Mal dort und wurde von Schoa-Überlebenden aufgenommen, die sie behandelten wie ihre eigene Tochter. Das war für meine Mutter unglaublich überraschend. Nirgendwo sonst hat sie sich so aufgenommen gefühlt. Ich glaube, die Liebe, die sie dort erfahren hat, schlägt sich in der Liebe für das Land nieder – und das im Endeffekt sogar mit dem Resultat, eine Halbisraelin als Tochter zu haben.
FAMILIE Ich bin mit meiner Mutter alleine aufgewachsen, mein Vater ist relativ früh gestorben. Und meine Mutter hat mir von Anfang an mit großer Selbstverständlichkeit auch die Kultur meines Vaters vermittelt. Es war ihr unglaublich wichtig, dass ich, wie sie sagte, mit 40 nicht dastehe und nach meinen Wurzeln suche.
Ich fand es von klein auf toll, nicht nur deutsch zu sein. Es war aufregend und spannend, mich mit so vielen Geschichten identifizieren zu können. Woher ich komme, das war ein bunter Strauß, und das hat mir als Kind schon gefallen. Ich habe das auch niemals hinterfragt. So wie andere Leute Müller heißen, bin ich eben halb Israelin und habe eine gemischte Kultur. Auch dass ich Hebräisch lernen wollte, war mir schon immer klar. Es gehört zu mir, Israel gehört zu mir, durch meinen Vater, und ich muss mich dort verständigen können. Wenn man dazugehört, ist es wichtig, dass man auch mitsprechen kann.
Das Mädchen aus der musikalischen Frühförderung wurde übrigens wie eine Schwester für mich. Die Musiklehrerin tut mir heute noch leid. In dem Moment, wo wir uns gefunden hatten, war es vorbei mit der Musik. Israelis begegneten einem damals wahrlich nicht jeden Tag in Berlin, und für mich war das ein Moment, wo ich dachte: »Da gibt es ja noch jemanden wie mich!« Auch sie ist halb deutsch und halb israelisch, und seit dem Moment in der Musikschule vor 25 Jahren sind wir ein Herz und eine Seele.
Es war ihr Vater, der die Vaterrolle auch für mich übernahm, als mein Vater starb, und der mich zur Einschulung in die jüdische Grundschule brachte. Von ihrer Familie habe ich Disneyfilme auf Hebräisch bekommen. Das war damals mein Zugang zur Sprache, denn es war natürlich schwierig, in Deutschland hebräische Filme zu finden. Wann immer sie zum israelischen Kindertheater gingen, nahmen sie mich mit. Ich gehörte einfach dazu.
WAHRNEHMUNG Derzeit wohne ich in den Niederlanden, in Nijmegen, das ist ganz dicht an der deutschen Grenze. Dort promoviere ich. Ich bin spezialisiert auf den Israel-Palästina-Konflikt. Ich habe einen Master in Humangeografie, das ist sozusagen Geopolitik. Man kann sich das ganz simpel so vorstellen: Während Geografen auf die Landkarte schauen und Gebirge, Steine und Ländergrenzen sehen, schaue ich auf die Landkarte und sehe Menschen. Die fehlen sonst in den Landkarten, und damit beschäftige ich mich.
Davor habe ich traditionelle Politikwissenschaft auf Bachelor studiert. Ich habe dort allerdings schnell gemerkt, dass ich in dieses enge Konstrukt nicht hineinpasse. Ich musste immer in Theorien denken, es gab nur eine Wahrheit, und die Realität ließ sich mit diesen politikwissenschaftlichen Theorien einfach nicht erklären. Es musste noch einen anderen Weg geben.
Menschen nehmen Dinge auf eine bestimmte Art wahr, weil sie auf eine bestimmte Art geprägt sind.
Hier kommen vielleicht meine eigene Biografie und meine multiple Identität ins Spiel. Mir fiel auf, dass man die Wahrnehmungen von Menschen und deren Identitäten mit diesen Theorien, diesem Starren nicht vereinen kann. Man kann gerne sagen, die Fakten sind so und so, aber die Wahrnehmung von Menschen hat eine unglaubliche Gewichtung, ganz abseits von Fakten. Es geht dabei nicht darum, wer mehr recht hat oder dass Fakten nicht zählen. Es geht darum, dass Menschen Dinge auf eine bestimmte Art wahrnehmen, weil sie eben auf eine bestimmte Art sozialisiert und geprägt sind. Darum habe ich mich entschlossen, in eine etwas andere Richtung zu gehen und Identitäten und Narrative zu berücksichtigen.
Ich bin Konfliktforscherin. Mich interessiert nicht nur, wie Narrative beeinflussen, dass ein Konflikt entsteht, sondern wie Narrative beeinflussen, dass wir keine Lösung finden können. Was hat es mit unseren Identitäten auf sich? Wie können wir uns identifizieren, territorial oder religiös, und wie trägt das dazu bei, dass wir nicht miteinander, sondern nebeneinander reden? Neben dem Israelischen ist das Jüdischsein für mich sehr wichtig. Ich glaube, das hat viel mit der jüdischen Grundschule zu tun. Im Nachhinein bin ich wirklich dankbar, dass ich dort war und Hebräisch lernen konnte. Ich habe seither zum Beispiel eine unglaubliche Liebe zur Tora.
LEHRER In der Grundschule hatten wir einen fantastischen Toralehrer. Einen, der Kinder ernst genommen hat. Er heißt Avital, ist immer noch Toralehrer und heute glücklicherweise auch ein Freund von mir. Er hat uns damals die Tora komplett undogmatisch vermittelt und uns dadurch erlaubt, eine große Nähe zur Religion aufzubauen und diese als offen und frei zu begreifen. Denn heute begreifen viele ja Religion als etwas, das einen einschließt oder Möglichkeiten versperrt. Aber genau das Gegenteil ist der Fall, wenn man jemanden hat, der einem so viel Freiheit gibt. Keine Interpretation war ihm zu verrückt, wir durften alles interpretieren, denn alles war offen. Das hat mir einen Zugang erlaubt, der nie mit Pflicht verbunden war.
Seit zwei Jahren engagiere ich mich im Programm »Dialogperspektiven« des Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerks. Es geht dabei um interreligiösen, aber auch gesamtgesellschaftlichen Dialog. Wir diskutieren dort Fragen wie »Wie wollen wir in die Zukunft gehen?«, »Welche Allianzen sind dafür notwendig?«, »Welche Rolle spielt Religion für uns?« Das sind dann die Momente, in denen ich explizit jüdisch bin.
In einem geschützten Raum kann das Gegenüber dann auch sagen, dass er oder sie noch nie einen Juden getroffen hat. Es ist schön, mit jemandem, der offen dazu steht, ins Gespräch zu treten und dann auch zu sehen, dass man sich eigentlich ziemlich ähnlich ist. Zwar kommt oft das Thema Antisemitismus oder Islamophobie auf, aber kann man nicht auch einmal miteinander ins Gespräch gehen, ohne gleich dem anderen vorzuwerfen, dass er latent rassistische Eigenschaften oder Ideen mit sich trägt?
Wir möchten zeigen: Wir sind plural, wir sind keine Einheit, kein Monolith.
So habe ich eine Muslimin kennengelernt, die für ein Praktikum nach Berlin gezogen ist. Sie wusste nicht, wo sie wohnen sollte, und lebt jetzt bei meiner Mama in meinem alten Kinderzimmer. So interreligiös und zwischenmenschlich wird es dann.
ZUKUNFTSKONGRESS Um solche Fragen ging es auch beim Jüdischen Zukunftskongress Anfang November in Berlin, an dessen Abschlusspanel ich teilgenommen habe. Wir reden eben nicht nur mit uns und nur miteinander. Dann müsste man es ja nicht öffentlich machen. Wir möchten zeigen: Wir sind plural, wir sind keine Einheit, kein Monolith, wir treten in ganz unterschiedlichen Formen auf, und wir reden mit allen, die mit uns reden wollen. Sehr gerne sogar. Das ist ein toller Impuls, finde ich.
Aufgezeichnet von Simone Flores