Am Schluss umarmt Ronia Beecher (80) spontan zwei Mädchen. Kurz davor hat sie Jugendlichen an der Freiburger Lessing-Realschule von der Rettung ihrer Familie erzählt – ihr Vater war Lehrer an der Zwangsschule für jüdische Kinder, die während des Nationalsozialismus an der Lessing-Schule untergebracht war.
Diese Umarmung wird nicht nur in Ronia Beechers Erinnerung weiterleben: Ihre Tochter Judi Beecher hat alles mit der Kamera festgehalten. Zwei Wochen lang hat die New Yorker Schauspielerin und Regisseurin zusammen mit ihrer Schwester Andrea Beecher ihre Mutter an die Orte ihrer Kindheit in Baden, im Elsass und in der Schweiz begleitet. Daraus soll bald ein Dokumentarfilm entstehen.
Die Lessing-Realschule ist ein besonderer Ort. Es sind viele, die in den vergangenen Jahren hierher zurückkamen. Menschen, die längst überall verstreut auf der Welt leben, aber irgendwann zwischen 1936 und 1940 die Freiburger Zwangsschule für jüdische Kinder besuchen mussten. Rosita Dienst-Demuth hat sie ausfindig gemacht. Seit 2001 erforscht die engagierte Geschichtslehrerin in der von ihr gegründeten Geschichtswerkstatt mit Jugendlichen die Vergangenheit ihrer Schule. Davor war dieses Kapitel jahrzehntelang ins Vergessen gedrängt worden.
Zu den Beechers aber führte Rosita Dienst-Demuth keine Spur. Dass sie an diesem Vormittag trotzdem in einem der Klassenzimmer sitzen, ist einem Foto zu verdanken. Es stammt aus dem Jahr 1938. Darauf zu sehen sind Schüler der Zwangsschule mit ihrem Lehrer Adolf Paul Reutlinger – Andrea und Judi Beechers Großvater.
zufall Als die Enkelin zufällig im Internet darauf stieß, war sie elektrisiert: Sie erkannte ihren Großvater, den Vater von Ronia Beecher, die im Dezember 1936 als Ronia Reutlinger in Lörrach nahe der Schweizer Grenze geboren wurde. Über die Website der Geschichtswerkstatt stellten die Schwestern Kontakt zu Rosita Dienst-Demuth her. Dass Ronia Beecher und ihre Töchter auf ihrer Reise in die Vergangenheit die Schule besuchen würden, war selbstverständlich.
Doch es hat auch lange Phasen in Ronia Beechers Leben gegeben, in denen sie nicht zurückschauen wollte. Als das jüdische Mädchen 1946 mit seinen Eltern in die USA emigrierte, war es zehn Jahre alt. Sie fühlte sich fremd. »Die anderen Kinder konnten nicht einmal meinen Namen aussprechen«, erzählt sie. Sie habe es gehasst aufzufallen – »ich wollte so sein wie die anderen«. Die Schüler nicken – sie können das verstehen.
Aber dann, Ende der 80er-Jahre, als sie als Lehrerin arbeitete, sprachen Beechers Kollegen über ein Buch, in dem es um eine Kindheit im Holocaust ging. Da sagte sie plötzlich spontan, ohne viel darüber nachzudenken: »Meine Geschichte ist ganz ähnlich.« Alle starrten sie überrascht an. Sie hatten sie bis dahin für eine im Land aufgewachsene Amerikanerin gehalten.
Metzgerei Zusammen mit ihren Töchtern ist Ronia Beecher nun nach etlichen Jahrzehnten an einige der Orte zurückgekehrt, die ihre Kindheit und ihre Familie prägten. Überall trafen sie Menschen, die sich, wie die Lehrerin Rosita Dienst-Demuth, für die Aufarbeitung der Geschichte engagieren oder selbst eine ähnliche Vergangenheit wie Ronia Beecher haben.
Unter anderem waren die Beechers in der Schweiz unterwegs, wo die Reutlingers als Flüchtlinge lebten, und in Ronia Beechers Geburtsort Lörrach, wo ihr Vater vor der Flucht als Kantor in der Synagoge amtierte. Außerdem führte die Reise Mutter und Töchter nach Straßburg, wo Ronia Beechers Vater geboren worden war, und nach Offenburg, wo ihre Großeltern eine Metzgerei besaßen – die es immer noch gibt. Ein Stolperstein erinnert dort an den im Konzentrationslager Majdanek ermordeten Großvater.
Ronia Beechers Eltern, Alice und Adolf Paul Reutlinger, haben später Einladungen zu Besuchen in Offenburg erhalten – doch im Unterschied zu deren Tochter haben sie nie darauf reagiert, erzählt Enkelin Andrea. Es sei zeitlebens viel zu verstörend für sie gewesen, dass ihre Angehörigen damals von ihren Freunden und Nachbarn betrogen und ihren Mördern ausgeliefert worden waren. Ronia Beecher konnte mit ihren Eltern lange nicht über die Vergangenheit sprechen. »Meine Mutter war traumatisiert, sie brauchte Abstand«, sagt sie heute.
tonbänder Die ersten zehn Jahre in den USA waren hart für die Reutlingers. Das Geld war knapp, die Mutter schlug sich als Schneiderin durch, der Vater als Tischler. Als die Mutter 1984 starb, wurde Ronia Beecher und ihren Töchtern Judi und Andrea klar, dass sie nur wenig über die Familiengeschichte wussten.
Schon 1987 nahm sich Judi Beecher daher zum ersten Mal vor, Nachforschungen anzustellen und einen Film zu drehen. Rechtzeitig vor seinem Tod befragte sie Ronia Beechers Vater und nahm die Gespräche auf Tonbändern auf. Es vergingen noch einmal zehn Jahre, bis sie seine Erzählungen transkribierte.
Am 80. Geburtstag von Ronia Beecher 2016 stand dann fest: Jetzt ist es an der Zeit, die Orte ihrer Kindheit aufzusuchen, und Judi Beecher beschloss, ihre Idee umzusetzen. Das findet sie gerade jetzt umso wichtiger, weil sich die Welt in eine Richtung verändert, die sie zutiefst beunruhigt.
»Gewalt und Hass breiten sich immer stärker aus«, sagt sie. Diese Entwicklung sei in vielen Ländern zu beobachten. Ihr Film soll ein Zeichen für Solidarität und Toleranz setzen: »Die Geschichte meiner Familie ist ein schönes Beispiel dafür, dass Menschen anderen helfen und sie dadurch retten können.«
pyrenäen Denn ihre Mutter und die Großeltern überlebten mit der Hilfe von anderen. Die Geschichte, die Ronia Beecher den Jugendlichen an der Lessing-Realschule erzählt, ist geprägt von außergewöhnlichen Begebenheiten. Sie spricht Deutsch, die Sprache ihrer frühen Kindheit. Die hat sie nie verlernt. Denn in New York trifft sie einmal im Monat in einer kleinen Runde Gleichgesinnte zu deutscher Konservation.
Ronia Beecher erzählt von ihren ersten beiden Lebensjahren in Lörrach, die sie selbst nur aus Erzählungen kennt. Nach der Pogromnacht verließen die Reutlingers ihre Heimatstadt. Kantor Adolf Paul Reutlinger wurde Lehrer an der Freiburger Zwangsschule für jüdische Kinder. Am 22. Oktober 1940 wurden die Reutlingers – zusammen mit fast allen anderen südbadischen Juden – ins südfranzösische Lager Gurs nahe der Pyrenäen deportiert. »Ich war damals vier Jahre alt«, sagt Ronia Beecher. Sie erinnert sich nicht daran, doch sie weiß aus Erzählungen, wie unerträglich der Alltag dort war: Hunger, Ungeziefer, Schlamm und Kälte quälten die Menschen, die in Baracken auf Stroh schlafen mussten.
Von dort aus wurden die Reutlingers ins Lager Rivesaltes verlegt, dort herrschten ähnliche Zustände. Eine Schweizer Kinderhilfsorganisation brachte Ronia schließlich ins Chateau des Avenières im französischen Cruseilles, ein Schloss, in dem elternlose Kinder untergebracht wurden. »Als meine Eltern mich zum Abschied im Lager Rivesaltes umarmten, versprachen sie mir, dass wir uns bald wiedersehen würden«, erzählt Ronia Beecher. Sie war damals viereinhalb Jahre alt. In den anderthalb Jahren der Trennung, die darauf folgten, gab es viele Nächte, in denen sich das Kind in den Schlaf weinte und dachte, dass seine Eltern es damals für immer verlassen hätten.
religion Wenn Ronia Beecher über ihre Kindheit spricht, gibt es weite Strecken, zu denen sie fast nichts mehr sagen kann. Wie war der Alltag im Chateau des Avenières? In Erinnerung geblieben sind ihr nur wenige Szenen. Es sind ausschließlich solche, die sie mit großer Angst und Anspannung verbindet.
Dazu gehört etwa die Ankunft im Schloss, als sie in eine Situation geriet, in der die anderen Kinder gerade über ihre Religion sprachen. Sie erstarrte. Was sollte sie sagen? Man hatte ihr eingeprägt: »Sag nie, dass du jüdisch bist!« »Als ein Junge erzählte, er sei Christ, sagte ich schnell: ›Ich bin auch Christin‹«, berichtet sie.
Und dann war da die sehr dramatische Szene eineinhalb Jahre später, nachdem den Eltern die Flucht in die Schweiz gelungen war, sie ihre Tochter ausfindig gemacht hatten und zu sich holen wollten: Die inzwischen sechs Jahre alte Ronia wurde an die Grenze gebracht und sollte dort mit einem Mädchen Ball spielen. Sie folgte der Anweisung, die ihr gegeben wurde, und rannte dem Ball hinterher, als das Mädchen ihn gezielt auf die andere Seite der Grenze warf. Sie schaute nicht zurück, so hatte man es ihr eingeschärft. Es gelang.
vorwürfe Auch danach war es nicht leicht: Ronia Beecher war ihren Eltern entfremdet, ebenso der gemeinsamen Sprache – sie hatte eineinhalb Jahre lang nur Französisch gesprochen. Und sie machte ihren Eltern Vorwürfe, weil sie ihr Versprechen, dass sie sich bald wiedersehen würden, nicht gehalten hatten.
Dabei stand die nächste Trennung bereits bevor: Kurz nach ihrer Ankunft in der Schweiz wurden Flecken auf Ronias Lunge entdeckt. Sie musste 15 Monate in einem Sanatorium verbringen, wieder ohne ihre Eltern. Was die beiden durchgemacht hatten, klärte sich für sie erst nach Jahrzehnten, als ihr Vater zu reden begann.
»Sie hatten sich im Lager Rivesaltes auf einem Speicher versteckt und an einem Morgen vor Sonnenaufgang fliehen können. Unterwegs trafen sie einen Polizisten, der sie zurück ins Lager bringen wollte«, berichtet Ronia Beecher. Der Vater habe ihm eher beiläufig ein Päckchen von seinem Tabak angeboten. Da habe er sie zum Bahnhof begleitet und weiterziehen lassen. Im Zug sei ihnen dann ein Aufseher vom Lager begegnet, auch er habe sie angesprochen.
»Sie erzählten ihm ihre Geschichte, und auch er schützte sie und gab sich als ihr Begleiter aus, als Polizisten zur Kontrolle kamen«, erzählt Ronia Beecher. Die Reutlingers fuhren nach Montpellier. Dort lebten Helfer, deren Adressen ihnen eine Frau in Rivesaltes gegeben hatte. Von dort wurden sie in die Schweiz gebracht. Ronia Beechers Mutter behauptete, sie sei schwanger, sonst wären sie nicht über die Grenze gekommen. Kurz danach wurde sie tatsächlich schwanger, sie bekam in der Schweiz nacheinander zwei Söhne.
Zuversicht Eine Kindheit, die von Verfolgung, Flucht und Trennung geprägt war – Beechers eindrückliche Geschichte bewegt die Jugendlichen. Als am Ende die zwei Mädchen nach dem offiziellen Abschied auf sie zukommen, sagen sie ihr, wie schön es sei, zu hören, dass es damals Menschen gab, die ihrer Familie halfen. »Wenn ihr erwachsen seid, werdet ihr auch solche Menschen!«, erwidert Ronia Beecher betimmt. Aus ihren Worten spricht Zuversicht, die ankommt.
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