Eva Szepesi

»Ich suchte sie mit den Augen«

Die Zeitzeugin über den Verlust der Familie, Überleben und ihre jahrelange Sprachlosigkeit

von Christine Schmitt  29.09.2022 09:45 Uhr

Eva Szepesi wurde von ihrer Enkelin Celina Schwarz im Bundestag interviewt. Foto: Rafael Herlich

Die Zeitzeugin über den Verlust der Familie, Überleben und ihre jahrelange Sprachlosigkeit

von Christine Schmitt  29.09.2022 09:45 Uhr

Frau Szepesi, Sie haben sich im Bundestag, als der israelische Präsident Isaac Herzog in Berlin war und die Ausstellung über das Luxemburger Abkommen eröffnet wurde, von Ihrer Enkeltochter Celina Schwarz interviewen lassen. Vor 90 Jahren kamen Sie in Ungarn auf die Welt, mussten als Elfjährige vor den Nazis fliehen, wurden entdeckt und nach Auschwitz deportiert. Sie sind eines von 400 Kindern, die das Lager überlebt haben. Haben Sie und Ihre Enkeltochter die Fragen zu Ihrer Lebensgeschichte vorher abgesprochen?
Erst einmal: Es war sehr schön für mich, mich von ihr interviewen zu lassen. Sie kennt ja meine Geschichte und hat die Fragen selbst vorbereitet. Sie ist 25 Jahre alt und ist mit meinem Schicksal groß geworden. Die Fragen hatte sie sich überlegt.

Wie war die Reaktion der Zuhörer?
Sie haben mich sehr herzlich begrüßt, und alle haben geklatscht. Ich war verlegen und wusste gar nicht, was ich tun sollte. Was soll ich sagen? Es war das erste Mal, dass ich im Bundestag gesprochen habe, und das ist wirklich etwas Besonderes für mich.

Sie haben sich willkommen gefühlt?
Ja, das muss ich sagen. Präsident Isaac Herzog war da und sprach mich auf Iwrit an, was ich gar nicht beherrsche. Meine Enkeltochter hat es dann für mich übersetzt. Es waren nur wenige Sätze, denn es ging für ihn gleich weiter. Auch Bundespräsident Steinmeier und Bundeskanzler Scholz waren dabei – für eine fast 90-Jährige eine große Ehre. Da ist ja nun die Ausstellung zum Luxemburger Abkommen eröffnet worden, wo man auch ein Kinderbild von mir sieht und meine Geschichte kennenlernen kann.

Sprechen Sie jetzt öfter über Ihre Vergangenheit?
In der letzten Zeit ja. Ich bekomme dauernd Anrufe von Leuten, die mich bitten, dorthin oder dahin zu kommen, um als Zeitzeugin zu sprechen. Es beschäftigt mich manchmal zu viel, aber ich tue es gern. Die Schüler schreiben mir nach einem Gespräch oft Briefe. Es ist etwas ganz anderes, eine Überlebende vor sich zu haben, als in einem Schulbuch über die Schoa zu lesen. Ich wünsche allen Schülern solche Begegnungen, denn an die werden sie sich immer erinnern.

Was wollen die Jugendlichen von Ihnen wissen?
Die Tagesabläufe von Auschwitz, wie es ist, Hunger zu spüren, und ob es da auch nette Menschen gab. Und sie fragen, was für eine Botschaft ich den Jugendlichen geben möchte. Dann sage ich, dass sie überhaupt nicht schuld daran sind, was damals passiert ist. Wenn sie heute Ungerechtigkeiten beobachten oder erleben, dann sollen sie nicht schweigen, sondern dem entgegentreten. Es ist schön, mit den Jugendlichen zu sprechen. Ich habe nur gute Erfahrungen gemacht.

Sie haben 50 Jahre lang gar nicht über Ihre Vergangenheit sprechen wollen.
Nein, noch nicht einmal mit der Familie.

Und mit Ihrem Mann?
Er hatte einmal gefragt, aber ich wollte nicht. Nun kann ich sprechen – im Gegensatz zu meiner Mutter, meinem lachenden kleinen Bruder und meinen Verwandten, die alle ermordet wurden. Sie sind stumm gemacht worden, sie können nichts mehr erzählen. Und dann kommt vielleicht jemand, der den Holocaust leugnet – was nicht sein darf. Es ist für die Zukunft wichtig, jetzt noch zu berichten, denn die Zeitzeugen werden immer weniger.

Erinnern Sie sich noch an den Auslöser, der Sie damals zum Reden brachte?
Wir waren zum 50-jährigen Gedenktag nach Auschwitz eingeladen. Aus Deutschland kamen viele Politiker und auch Jugendliche. Ich wollte eigentlich nicht hin, aber meine beiden Töchter redeten mir zu. Schließlich sind wir zusammen hingeflogen. Ich fürchtete mich vor der Begegnung mit dem Lager, aber es sah dann ganz anders aus als früher.

Einige Jahre später, 2016, sind Sie noch einmal nach Auschwitz gefahren.
Ja, und da hat meine Enkeltochter Celina die Namen meiner Mutter und meines Bruders in dem Buch der Verstorbenen gefunden. Bis dahin hatte ich immer gehofft, dass sich meine Mutter mit ihm versteckt und überlebt hätte. Ich konnte nie trauern. Das änderte sich 2016, als ich ihre Namen nun vor mir sah. Ich wollte es erst gar nicht glauben. Seitdem kann ich weinen und trauern. Jeden Tag denke ich an sie, jeden Tag spüre ich den Schmerz ihres Verlustes. Es tut weh. Was ich alles von meiner Mutter lernen konnte. Ich habe Fotos von ihr bekommen, eine Nachbarin gab sie mir, alles andere war weg. Ich sehe jetzt, wie meine Mutter mich angezogen hat. Sie hat alles selbst genäht, denn sie war sehr geschickt. Und alles mit Kragen aus Spitze und Schleifen.

Was ist damals mit Ihrem Vater passiert?
Er wurde 1942 zum ungarischen jüdischen Arbeitsdienst, dem sogenannten Munkaszolgalat, einberufen. Zuvor besaß er ein Geschäft für Herrenmoden. Einmal hat er eine Karte geschrieben, einmal haben wir ihn noch besucht. Dann hatte er sich nicht mehr gemeldet und war verschwunden. Im Jahr 1943 – was ich auch erst später erfahren habe, denn meine Mutter wollte mich schützen und erzählte mir wohl deshalb nichts davon – kam eine Nachricht vom Roten Kreuz, dass er nicht mehr auffindbar war. Das habe ich nach dem Krieg von meinem Onkel erfahren, der dank eines Wallenberg-Schutzbriefes überleben konnte.

Hatten Sie als Kind schon etwas von den Deportationen mitbekommen?
Im März 1944 sind die Deutschen in Ungarn einmarschiert, und gleich Anfang April mussten wir den gelben Stern tragen. Meine Mutter hatte sofort gehandelt und sich um falsche Papiere für mich gekümmert. Ich sollte mit meiner Tante in die Slowakei zu meinen Großeltern reisen. Ich wusste erst nicht, dass es eine Flucht ist. Als kleines Kind war ich gerne bei meinen Großeltern und dachte, es geht zu ihnen. Ich wusste nicht, dass sie da längst deportiert waren. Wir hatten in einem Vorort von Budapest gelebt, und eigentlich waren die Deportationen gestoppt. Es sollte keine Transporte mehr geben, weil es schon zu viele waren. Wahrscheinlich wurden meine Mutter und mein Bruder mit dem zunächst letzten Transport abgeholt. Jeder hatte gehofft, dass es wieder gut wird. Auch meine Mutter hatte versprochen, dass sie nachkommt. Sie hatte mich mit meiner Tante auf die Flucht in die Slowakei geschickt. Ich habe gehofft und auf sie gewartet. Aber sie konnte nicht mehr, das weiß ich jetzt. Sie waren bereits vor meiner eigenen Ankunft in Auschwitz ermordet worden.

Sie sollten bei Ihrer Flucht so tun, als wären Sie taubstumm. Was passierte dann?
Wir sind entdeckt worden, und so kam ich ins Sammellager nach Sered und dann nach Auschwitz-Birkenau. Dort wurde mir die Häftlingsnummer A26877 auf den Arm eintätowiert.

Eine Woche haben Sie unter Toten gelegen. Wie haben Sie das ausgehalten?
Ja, ohne Essen und ohne Trinken. Sie haben gedacht, dass auch ich schon tot bin, denn ich war so abgemagert und ohnmächtig. Die, die noch laufen konnten, wurden auf den Todesmarsch geschickt, und die anderen haben sie liegen gelassen. Jemand hat mich mit Schnee gefüttert – das weiß ich noch genau. Bis die Mitarbeiter des Rotes Kreuzes kamen. Die russische Armee hat mich befreit.

Das muss eine große Erleichterung gewesen sein.
Es war ein wunderbares Gefühl, denn jemand hat mich angelächelt. Es war so menschlich. Vorher hatte ich nur Schreie gehört – und Peitschengeknalle. Ich habe das nicht gekannt, dass man nur schreit. Es war nun ein Gefühl der Hoffnung. Ich wurde nach Czernowitz und Kattowitz gebracht. Langsam bin ich zu Kräften gekommen. Und dann fand mich mein Onkel. Mit dem Roten Kreuz wurden andere und ich in extra eingerichtete Räume der Jüdischen Gemeinde gebracht, wo Listen aushingen. Angehörige konnten die Gesuchten abholen – so fand mein Onkel mich, und ich konnte nach Hause. Ich hatte einen Bauch, der aussah wie der einer Schwangeren, da ich immer hungrig war.

Wie fühlte es sich an, zurückzukommen?
Als ich im Januar 1945 befreit wurde, habe ich gedacht, dass meine Mutter mich erwarten wird. Das hat mich am Leben gehalten. Aber nur mein Onkel war da. Ich habe ihn nicht gefragt, aber er hat bemerkt, wie ich mit meinen Augen suchte. Und er hat von sich aus gesagt, dass wir warten würden, denn jeden Tag kamen Transporte an. Sie würden kommen. Das hat er mir so eingeredet, dass ich es glaubte. Ich habe ein neues Leben angefangen, ging zur Schule. Ich habe nicht getrauert, sondern gewartet. Was mir geholfen hat. Damals.

Haben Sie sich einsam gefühlt?
Ja, ich hatte wenig Vertrauen. Ich sollte bei der Flucht ja taubstumm sein, und dieses Gefühl hatte ich immer noch.

Was denken Sie heute?
Die Trauer ist jeden Tag präsent. Als ich jünger war, hatte ich nicht so viel Zeit, ich musste mich um meine beiden Töchter kümmern und um vieles mehr. Es war nicht so leicht. Ich arbeitete Tag und Nacht, und ich konnte die deutsche Sprache nicht. Jetzt, im Alter, denke ich viel an die Zeit, als ich ein Mädchen war. Meine Mutter musste es schwer gehabt haben, denn ich war eifersüchtig, weil mein Bruder bei ihr bleiben durfte. Und nun ist es schwer für mich, weil ich leben darf. Ich habe ein Foto, auf dem lacht mein Bruder richtig. Jeden Tag schaue ich mir die Fotos von ihnen an. Seit 2016 stehen sie auf meiner Kommode, und wenn ich hereinkomme, spreche ich mit ihnen. Jetzt habe ich Zeit, an sie zu denken.

Sie haben dann rasch einen Beruf ergriffen …
Ja, ich ließ mich zur Schneiderin ausbilden, heiratete 1951 meinen Mann Andor Szepesi. Er war Kürschner und bekam eine Anstellung in der ungarischen Handelsvertretung. Deshalb zogen wir 1954 nach Frankfurt am Main, wo ich immer noch lebe.

Was denken Sie über »Wiedergutmachung«?
Es ist keine Wiedergutmachung, denn das ist unmöglich. Es bringt meine ermordete Familie nicht zurück. Man hat ihnen das Leben genommen. Aber es ist eine Anerkennung des Leidens. Das Geld, das wir Überlebende von der Claims Conference bekommen, ist wichtig, denn wir brauchen im Alter mehr für unsere Gesundheit, es kommen mehr Leiden. Mir waren damals meine Hände und Füße erfroren, was ich heute im Alter wieder spüre und was mir Schmerzen bereitet.

Was haben Sie am 29. September, Ihrem 90. Geburtstag, vor?
Meine Töchter haben mir gesagt, dass ich zu Hause bleiben soll. Wahrscheinlich kommt viel Besuch. Es wird bestimmt schön.

Was nehmen Sie sich für das neue Jahr vor?
Ich werde versuchen, positiv zu denken, mich zu pflegen und mich nicht gehen zu lassen. Und ich möchte weiterhin Schulen besuchen und von meinem Überleben berichten.

Mit Eva Szepesi sprach Christine Schmitt.

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