Dass ich heute hier sitze und mit einer Journalistin spreche, das hätte ich nicht gedacht. Ich bin eher ein zurückhaltender Mensch. Aber meine Hochschule hat mich darum gebeten. »Okay«, habe ich gesagt, »ich mache es, euch zuliebe.«
Ich besuche zurzeit das konservative Masorti-Rabbinerseminar Zacharias Frankel College in Potsdam. Dass ich einmal den Wunsch hegen würde, Rabbiner zu werden, wer hätte das gedacht? Ich selbst von mir am allerwenigsten; und doch habe ich mich 2016 für das Studium beworben.
Mein Vater, Chaim Weiner, der selbst Masorti-Rabbiner in London ist, war sehr überrascht, als ich ihm von meinem Vorhaben erzählte. Seine Reaktion darauf – da muss ich heute noch schmunzeln. Er erinnerte mich daran, dass das kein Nine-to-five-Job sei, den ich später ausüben würde. Ich solle mir das gut überlegen.
käse Unsere Beziehung hat sich seitdem verändert. Wir führen viele und lange Diskussionen, meistens über Skype. Zuletzt nahmen wir das Thema »koscherer Käse« auseinander. Was es dabei alles zu bereden gibt, Sie können es sich nicht vorstellen!
Die Frage war: Ist Käse, der von Nichtjuden hergestellt wird, koscher? Im orthodoxen Judentum lautet die Antwort ganz klar: Nein. Doch welche Haltung kann Masorti dazu einnehmen, jene religiöse Strömung im Judentum, die eine Mittelposition zwischen Orthodoxie und Reform darstellt? Mein Vater und ich, wir haben uns daraufhin mit der alten Tradition der Aschkenasim beschäftigt. Dort kann Käse auch dann koscher sein, wenn er von Nichtjuden hergestellt wird. Womit das zusammenhängt, würde an dieser Stelle zu weit führen. Aber es ist ein interessanter Standpunkt.
Eine andere große Frage, die viele Konservative beschäftigt, lautet: Ist an Schabbat Fahrradfahren erlaubt? Es gibt zwei rabbinische Antworten darauf – die eine lautet »Ja«, die andere »Nein«. Die meisten wollen es verbieten, aber warum? Es gibt Juden, die wohnen weiter weg von der Synagoge, für die wäre das Fahrradfahren also eine gute, praktische Option. Wie Sie sehen, es lässt sich über vieles diskutieren.
gebet Genau das liebe ich an meinem Masorti-Rabbinerseminar. Wir sind eine kleine Gruppe von sieben Studenten in Potsdam. Es handelt sich dabei um kein normales Universitätsstudium. Ich bin nur ab und zu am Frankel College. Stattdessen skype ich regelmäßig mit Rabbinern der Ziegler School of Rabbinic Studies an der American Jewish University in Los Angeles oder besuche meine Lehrer zu Hause.
Ich lerne dabei nichts über das Judentum, das ist Inhalt der Jüdischen Studien. Ich studiere vielmehr das Leben und seine jüdische Antwort darauf. Das Gebet spielt dabei eine große Rolle, es stellt nicht nur ein Ritual in der Synagoge dar, sondern liefert uns ebenjene Antworten auf die Welt. Ich bekomme durch das Studium einen Wortschatz zur Verfügung gestellt, mit dem ich reagieren kann auf alles, was passiert, egal ob es etwas Schönes oder Schlechtes ist.
Teil des Studiums ist ein einjähriger Aufenthalt in Israel, ich habe ihn kürzlich absolviert. Es waren sehr intensive Monate, wir hatten täglich zehn bis zwölf Stunden Unterricht. In der Jeschiwa versammelten sich circa 60 Teilnehmer aus aller Welt. Jeweils zu zweit haben wir uns den religiösen Schriften gewidmet, die Kommentare und die Kommentare der Kommentare gelesen und versucht, sie zu verstehen. Es war eine spannende Zeit. Ich habe nicht nur Antworten, sondern auch viele Fragen gefunden.
kibbuz Israel kenne ich bereits aus frühen Kindertagen. Ich bin 1985 in Jerusalem geboren worden. Mit fünf Jahren zog ich mit meiner Familie nach London, wo mein Vater anfing, als Rabbiner zu arbeiten. Noch heute leben meine Eltern dort.
Nachdem ich in England die Schule beendet hatte, entschied ich mich, wieder nach Israel zu gehen. Da war ich 17 Jahre alt. Ich wollte am Nahal-Programm teilnehmen, einer Mischung aus Militärdienst und freiwilligem sozialen Engagement. Das ging dreieinhalb Jahre. Ich habe dabei vieles gelernt, besonders prägend war die Arbeit mit obdachlosen Kindern in Haifa.
Danach bin ich weitergezogen, in einen Kibbuz, um dort im Kindergarten zu arbeiten. Im Anschluss daran habe ich ein Mathematik- und Philosophie-Studium begonnen. Nach einem Jahr stellte ich aber fest, dass die beiden Fächer nichts für mich sind, und wechselte zur Sozialen Arbeit. Das hat mich dann wirklich interessiert, nach drei Jahren hatte ich meinen Bachelor in der Tasche. Ich fing an, bei einer Organisation für Folteropfer zu arbeiten.
lebensfragen Nach zwei Jahren hatte ich das Gefühl, ich müsse etwas Neues beginnen. Da kam Berlin auf den Plan. »Warum nicht ein paar Monate dort verbringen?«, dachte ich damals. Aus wenigen Monaten sind nun einige Jahre geworden. Seit 2014 lebe ich in dieser wundervollen Stadt. Das Leben meint es hier gut mit mir. Ich habe schnell Freunde gefunden, eine Arbeit, eine Wohnung. Nicht alle haben dieses Glück.
Durch meine Tätigkeit in der Masorti-Kita konnte ich schnell Kontakt zur jüdischen Welt aufbauen. An Schabbat versammelten sich Freunde und Freunde von Freunden in meiner kleinen Wohnung. Wir diskutierten über jüdische Themen und sprachen über große Lebensfragen. Mit der Zeit wurde ich für die Menschen zu ihrer jüdischen Adresse. Irgendwann dachte ich mir: Dann kannst du ja auch Rabbiner werden. Wie Sie sehen, das war wirklich nicht von langer Hand geplant.
Ich bewarb mich am Frankel College in Potsdam. Es folgten viele Interviews. Hebräisch zu können, wird vorausgesetzt, genauso, dass man ein jüdisches Leben führt. Heute dort Student zu sein, fühlt sich für mich ganz natürlich an, es war einfach der nächste Schritt in meinem Leben.
Zurzeit sitze ich an meiner Bachelor-Arbeit. Wenn ich etwas nicht mag, dann ist es das Schreiben. Ich liebe es zu lernen, zu diskutieren, Unterricht zu haben. Aber das Schreiben ist eine Herausforderung. Ich schaffe vielleicht einen Satz pro Tag. Am Thema liegt es aber definitiv nicht. Denn das finde ich spannend, weil es auch mich persönlich betrifft.
gleichberechtigung Ich beschäftige mich mit der traditionellen Hochzeitszeremonie und ihren Veränderungen. Ich bin dabei mein eigenes Fallbeispiel – erst im Mai habe ich geheiratet.
Noémi und mir war es wichtig, während unserer Zeremonie die Gleichberechtigung von Mann und Frau in den Mittelpunkt zu rücken. Bei dem Thema sollten sich wirklich viele Dinge ändern.
Ich finde den Platz für Frauen im traditionellen Judentum einfach peinlich. Das muss ich hier so sagen. Vor 2000 Jahren hatte das seinen Sinn, das kritisiere ich nicht. Damals hatten Frauen keinen Status in der Gesellschaft. Aber heute ist das wirklich anders: Frauen dürfen alles tun – das sollte sich auch im religiösen Leben widerspiegeln.
Wie können Tradition und Moderne zusammengebracht werden? Das ist eine wichtige Frage. Auch in Israel wird sie viel diskutiert. Das letzte Wort ist dabei noch lange nicht gesprochen.
In circa ein, zwei Jahren werde ich das Rabbinerseminar hoffentlich erfolgreich abgeschlossen haben. Was ich danach mache, steht noch in den Sternen. Nur als Rabbi in einer Synagoge zu arbeiten, die Rituale auszuführen – ich glaube, das wäre mir zu wenig. Ich möchte mich auch sozial engagieren. Eine Mischung aus Sozialarbeiter, Lehrer und Rabbiner – das wäre was.
Ich kann mir gut vorstellen, nach meinem Studium in Berlin zu bleiben. Es leben so viele junge Juden hier, viele von ihnen sind in keiner Gemeinde Mitglied, aber interessiert am jüdischen Leben. Das ist spannend.
freiheit In der Stadt herrscht eine gewisse Freiheit. Es gibt keinen sozialen Druck, niemand sagt, du musst das so und so machen. Jene, die jüdisch leben wollen, machen das von innen heraus; sie suchen nach Inhalt, nicht nach Formellem.
Eine weitere Frage, die mich bewegt, ist, wie man als moderner Jude mit all seinen Traditionen heute Teil der deutschen Gesellschaft sein kann. Darüber müssten wir viel mehr sprechen.
Doch das Thema, das heute überwiegt, ist der erneute Antisemitismus. Ich führe ungern Diskussionen darüber. Klar, Antisemitismus ist ein Problem, wenn er existiert. Aber er sollte unsere eigene, jüdische Debatte nicht dominieren.
Aufgezeichnet von Maria Ugoljew