Schoa

»Ich spüre heute keinen Hass mehr«

Sylvie Rosenberg erbte unbewusst das Trauma ihrer Mutter Chana. Dank einer Therapiemethode können beide heute besser damit umgehen

von Geneviève Hesse  03.07.2018 09:42 Uhr

Heute sind Mutter und Tochter innig verbunden. Das war nicht immer so, denn beide litten unter den Traumata aus der Schoa. Foto: Uwe Steinert

Sylvie Rosenberg erbte unbewusst das Trauma ihrer Mutter Chana. Dank einer Therapiemethode können beide heute besser damit umgehen

von Geneviève Hesse  03.07.2018 09:42 Uhr

Ich bin ein Museumsobjekt», witzelt Chana Rosenberg über sich selbst. Die 88-Jährige ist eine der letzten Zeuginnen der Schoa – und ihr blitzt der Schalk aus den Augen. Entspannt sitzt sie in der Zweizimmerwohnung ihrer Tochter Sylvie im Erdgeschoss in Berlin-Tiergarten, ganz nah an der Spree.

Chana Rosenberg ist aus Paris angereist, um bei einem psychokörperlichen Workshop mitzuwirken, den ihre Tochter am Wochenende veranstaltet. Chana Rosenberg scheint mit sich im Einklang zu sein – die Falten in ihrem gebräunten Gesicht wirken harmonisch zu ihren dunkel funkelnden Augen und ihren korallenrot geschminkten Lippen. Eine verspielte türkisfarbene Kette ziert ihr helles Sommerkleid.

Vergeblich sucht man in ihrem äußeren Erscheinungsbild nach Spuren von Leid, Bitterkeit oder Ärgernis, die nur allzu verständlich wären nach den Erlebnissen, die sie in einer zweistündigen Dokumentation der Shoah Foundation im Jahr 1995 schilderte: die Kindheit in Polen, die Jahre der Verfolgung, die Deportationen nach Auschwitz und Buchenwald, das unverhoffte Überleben ihrer Mutter, ihres Vaters und ihres älteren Bruders. «Alle, die ihr begegnen, lieben sie», bestätigt Sylvie.
In der Tat kann man dem direkten, warmherzigen Charme von Chana Rosenberg kaum widerstehen. Schnell bietet sie das «Du» an. «Chana» stehe zwar in ihrem Pass, aber «Anna» wollte sie nach dem Zweiten Weltkrieg genannt werden, um sich in Frankreich mit ihrer Familie besser zu integrieren. Heute kehre sie «doch gerne mal zurück zu Chana».

instinkt Wie ist das überhaupt möglich? So zart und freudig aufzutreten, wenn man als Kind durch die Hölle ging? Wo ist das Trauma geblieben? «Es ist weg, ich bin innerlich nicht mehr in den Konzentrationslagern eingesperrt», sagt Chana schlicht. Allerdings sei es ein langer Weg gewesen. Zuerst kam die physische Befreiung, und dann ihre Lebensfreude nach dem Krieg, die sie als «etwas Animalisches» beschreibt: «Ich war wie ein Tier im Dschungel, gerade raus aus seinem Käfig.» Sie wollte alles nachholen, was sie als Jugendliche verpasst hatte. Sie heiratete, wollte eigentlich keine Kinder, bekam sie trotzdem, arbeitete in der Modebranche. Und sie schaute nie zurück.

«Sie war sehr anstrengend», mischt sich Sylvie ein, die bisher aufmerksam zugehört hat. «Die heutige Chana hat nichts mit der früheren Frau zu tun. Ständig gereizt, nervös und unzufrieden war sie.» Zu diesem Zeitpunkt sei sie wie «entmenschlicht» gewesen. Ein hartes Wort, zugegeben, das Sylvies «eigenem, familiär geerbtem Trauma» entspringt. Als Sylvie in der Pubertät war, gab es viel Streit zu Hause. Die Mutter erzählte ihr dann etwa, wie sie versucht hatte, ihre Schwangerschaft beim Springen im Schwimmbad zu beenden. «Es war schlimm, so etwas zu hören», sagt Sylvie – und witzelt gleich hinterher: «Aber ich habe mich festgehalten, und ich bin jetzt da.»

«Ich hatte in der Tat keinen mütterlichen Instinkt», sagt Chana und nickt. «Ich wusste nicht einmal, was das bedeutet.» Sie habe aber auch nicht den Eindruck gehabt, traumatisiert zu sein. Schließlich hatte sie die KZ-Jahre «beiseitegeschoben» und schätzte sich als «glücklich» ein. Erst später entdeckte sie, dass sie zwar überlebt hatte, aber im Innern «anästhesiert» war. «Am Leben zu sein, heißt nicht immer, dass man lebendig ist.»
Sehr lebendig war allerdings in dieser Lebensphase ihr Hass auf Deutschland und die Deutschen. Bei jedem Einkauf prüfte sie akkurat, dass nicht «Made in Germany» darauf stand. Sie versuchte, ihre Kinder nicht mit ihrem Hass anzustecken. Vergebens – Sylvie wusste alles.

«Ich war sogar stolz darauf, ich trug es als Identitätsmerkmal vor mir her: Meine Mutter war im KZ. Auf dem Schulweg fantasierte ich mit einer Freundin, wie wir Nazis foltern würden, wenn wir sie treffen.»

symptome Sylvie war die Erste, die Symptome als Folge des verdrängten Traumas der Mutter entwickelte. Schon als junge Frau war sie von depressiven Lebensängsten geplagt. Sieben Jahre lang übte sie buddhistische Meditation, später machte sie eine achtjährige Psychoanalyse, dann waren mehrere Heilmethoden dran. «Zwar erlebte ich dabei auch Gutes, aber im Grunde fiel es mir immer noch schwer, zu leben.»

Schließlich kam sie als Physiotherapeutin in Berührung mit der Körpertherapie von Danis Bois, die sich mit den Spuren von seelischen Verletzungen im Gewebe beschäftigt. «Erst dann konnte ich einen reellen Prozess der Befreiung von dem familiären Trauma anfangen.» Davon erfuhr ihre Mutter damals nichts, die beiden sprachen wenig miteinander.

Dennoch landete Chana erstaunlicherweise bei der gleichen therapeutischen Methode, wenn auch über andere Wege. Es war nach dem plötzlichen Tod ihres Mannes im Jahr 1986. Erst da kam das KZ-Trauma bei ihr wieder hoch. Sie rang nach einem Grund, überhaupt am Leben zu bleiben. Auf einer Messe zum Thema «Vivre autrement» («Anders leben») bekam sie eine Einladung zu einem Workshop von Danis Bois.

Dort stellte sie sich als Freiwillige zur Verfügung, um vor der Gruppe eine körperliche Bewegung zu machen, die wie ein extrem langsamer Tanz aussieht – eine typische Übung für diese Methode. Dabei geht es darum, «der inneren Sehnsucht die Führung der Bewegung» zu übergeben. Chana hatte vor, sich so zu bewegen, als würde sie Blumen pflücken. Aber plötzlich kam in ihr ein Gefühl hoch, als wäre sie dabei, ein ganzes Orchester zu leiten.

«Es hat sich etwas in mir geöffnet», sagt Chana. «Ich nahm wahr, dass ich viel mehr als bisher empfinden kann. Ich fühlte mich wie Alice im Wunderland», schwärmt die 88-Jährige. Genau in diesem Moment sei in ihr «eine kleine Stimme» wieder hochgekommen, die ihr auch im KZ mehrmals das Leben gerettet hatte. Es war eine Art Instinkt, der ihr zum Beispiel sagte, in der Gruppe mit ihrer Mutter zu bleiben, als sie in die Gaskammern geschickt wurden. Eigentlich hätte sie in die andere Gruppe gehen sollen.

Doch sie wollte sich auf keinen Fall von ihrer Mutter trennen. Diese Entscheidung erwies sich als lebensrettend. Die beiden blieben ganz weit am Ende der Reihe, so konnten sie plötzlich davonlaufen, den Schüssen im Zickzack ausweichen und sich in einer Baracke verstecken. Einen ähnlich deutlichen Impuls spürte die um ihren Mann trauernde Chana bei der Begegnung mit Danis Bois. «Hier werde ich wieder lebendig.» Sie bekam viele Behandlungen und ließ sich danach wie Sylvie als Therapeutin ausbilden.

emotionen Heute zählt Chana ihre verschiedenen Leben auf: Kindheit und Jugend in Polen, das Überleben in den Konzentra-
tionslagern, das Leben unter «innerer Anästhesie» in Frankreich – und jetzt das «Super-Leben» fügt sie mit einem schallenden Lachen hinzu. Das klingt wie ein Märchen – würde ihre fröhliche Ausstrahlung nicht davon zeugen.

«Was zählt, ist das, was ein Mensch ausstrahlt. Aus mir strahlte damals gar nichts aus, obwohl ich eine sehr schöne Frau war», erinnert sich Chana. Die Sanftheit, die auch Sylvie während ihrer ersten Behandlungen empfand, ließ sie nicht mehr los. Es war etwas, das sie zuvor nie gespürt hatte. «Seien wir verrückt», sagt sie lächelnd, «nennen wir es Liebe – oder einfach menschliche Wärme.»

Die Methode scheint Hand und Fuß zu haben – immerhin leitet der inzwischen pensionierte Professor für Erziehungswissenschaft, Danis Bois, das Forschungsinstitut Cerap für Perzeptive Psychopädagogik, das der portugiesischen Universität Fernando Pessoa angeschlossen ist. Seine Methode wirke tief im Körper, unter anderem durch die Faszien – einen Teil des Gewebes, das auch traditionelle Mediziner langsam entdecken.

Im Mittelpunkt steht der Begriff der «inneren Bewegung», die sich wie eine sehr langsame wohltuende Welle im Körper anfühlen soll. Diese erstarre an bestimmten Punkten, wenn wir seelisch leiden. Sanfte Berührungen oder Gebärden sollen die verhärteten Stellen auflösen – und die in ihnen schlummernden Emotionen wachrufen, allerdings mit weniger Wucht als beim traumatischen Erlebnis.

schutz «Meine Erinnerungen an die Schoa lagen unter einer dicken Schicht», beschreibt Chana. «Eingebettet in der neuen, wunderbaren Wahrnehmung der inneren Bewegung konnte ich auf diesen künstlichen Schutz langsam verzichten. Die erstarrten Stellen meines Körpers, die mich am Leben hinderten, sind spürbar geworden.»

Es müssten nicht gleich die schlimmsten Traumata wie aus dem KZ sein, betont Sylvie. Auch bei scheinbar anekdotischen Verletzungen können die Faszien eine «Unbeweglichkeit» speichern. Als «Pflaster» sei diese eine Weile durchaus sinnvoll, aber auf Dauer glückshemmend. «Was uns glücklich oder unglücklich macht, ist das, was von äußeren Ereignissen in uns übrig bleibt, die Beziehung, die wir dazu pflegen.»

Auf Sylvie persönlich hatte die «anästhesierte Mutter» eindeutig negative Folgen. Hinzu kam ihre unbewusste, enorme Treue zu den Toten der Schoa. Langsam wurde ihr klar, wie stark diese Treue sie selbst am Leben hinderte. «Heute habe ich mich von der KZ-Geschichte befreit, die unbewusst in meinem Körper gespeichert war.»

Mit politischer Erinnerungsarbeit haben Chana und vor allem Sylvie wenig am Hut. Sie fühlen sich zum Judentum zugehörig, aber nicht religiös. Die Methode Danis Bois, die ihr Leben so stark prägte, steht eher dem Humanismus nahe. Jedoch freut sich Chana sehr, an jüdischen Feiertagen mit ihren Freunden in Paris zu essen, wie ihre Familie es früher in Polen tat. Über die Aktivitäten von «Le Mémorial de la Shoah», dem zentralen Gedenkort an den Holocaust in Frankreich, ist sie sehr gut informiert.

dokumentation Mutter und Tochter begrüßen jede Aktion gegen Antisemitismus, egal welchen Ursprungs er ist. «Am schlimmsten ist es, wenn alle Menschen aus einer Gruppe über einen Kamm geschoren werden», meint Chana. «Wenn wir auch verallgemeinern, dann werden wir wie die Antisemiten.» Deswegen sei es ihr zum Beispiel wichtig, zwischen Muslimen und radikalisierten Muslimen zu unterscheiden. Und zu betonen, dass der Antisemitismus in Europa immer noch am meisten von den Rechtsextremisten herrührt.

Als Schoa-Überlebende bekommt Chana immer mehr Nachfragen und Einladungen, Zeugnis abzulegen. Meistens hält sie sich davon fern, zweimal besuchte sie jedoch Schulklassen – bisher nur in Frankreich. Reden möchte sie allerdings nicht mehr selbst über ihre Erlebnisse, nur Fragen beantworten, nachdem die Gruppe sich einen Dokumentarfilm über sie angeschaut hat.
Einmal vor der Kamera zu zeugen – das war ihr schon anstrengend genug. «Als das Drehteam kam, dachte ich, ich würde mich sowieso an nichts erinnern. Dann habe ich doch sehr lange geredet, es fühlte sich wie eine verbale Entbindung an. Gleich danach bin ich stundenlang gewandert, da es so viel Energie in mir freisetzte.»

«Sind es wirklich die Überlebenden, die eine Pflicht zur Erinnerung haben sollten?», fragt Sylvie, um die Einstellung ihrer Mutter zu begründen. «Ich komme nach Deutschland mit unserer Körpertherapie», sagt Chana, «das ist mein Beitrag: Ich öffne die Herzen der Deutschen.» Sie habe so viel Gutes aufgrund der Therapiemethode Danis Bois erlebt, nun wolle sie das Glücksgefühl der inneren Befreiung an andere weitergeben.

akademie Vor rund 15 Jahren gründete Sylvie mit einer Kollegin die «Akademie für die Entwicklung menschlicher Fähigkeiten». Sie unterrichten dort die Perzeptive Pädagogik von Danis Bois. Chana ist manchmal dabei. Ihre tätowierte Nummer auf dem Arm ist oft eine Herausforderung für die Teilnehmer. Sie wirke manchmal wie ein Katalysator zur Aufarbeitung von Prozessen aus der «verinnerlichten deutschen Geschichte», schildert Sylvie.

Daher geht Chana das Thema jetzt offen an. Am Ende des ersten, vierjährigen Ausbildungsdurchgangs sagte sie bei der Diplomübergabe einen Satz, der viele Anwesende bewegte: «Dank euch spüre ich keinen Hass mehr auf die Deutschen.» Man solle das Leben lieben, findet Chana. Mit Hass im Herzen gelinge das nicht.

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