Als hauptamtlicher Guide im Jüdischen Museum Berlin kann ich viele Sprachen einsetzen: Russisch, Deutsch, Englisch, im Sommer kommt noch Hebräisch dazu. Neulich habe ich sechs Wochen in Beer Sheva verbracht, um die Sprache aufzubessern. Aber Kern der Führung bleibt, egal in welcher Sprache, die deutsch-jüdische Geschichte.
BESUCHER In der Regel versuche ich, auf Besonderheiten der Gruppe einzugehen. Das ist auch für mich viel interessanter. Die Ausstellung »Koscher & Co.«, die bis Ende Februar lief, haben viele Gruppen im Rahmen ihrer Integrationskurse besucht. Das waren Migranten, die sich auf ihre Einbürgerung vorbereiten. Ich hatte in meinen Führungen türkische, malaysische und chinesische Teilnehmer. Das Thema Speisevorschriften führte zu einer regen Diskussion mit den Muslimen. Von ihnen habe ich gelernt, dass Mayonnaise kein Milchprodukt ist und ruhig in koscheren Fleischspeisen verwendet werden kann. Man lernt nie aus!
Nun freue ich mich besonders auf die für Ende des Monats geplante Eröffnung der Ausstellung »Helden, Freaks und Superrabbis« über jüdische Comiczeichner. Das ist spannend! Bestimmt werden etliche Besucher jünger sein als ich mit meinen 29 Jahren.
Natürlich habe ich auch in der ständigen Ausstellung meine Favoriten. Zum Beispiel die bunt ausgemalte Holzsynagoge, die in der Nähe von Schwäbisch Hall stand. Oder der Knoblauch mit drei Zehen für die drei ältesten jüdischen Gemeinden in Deutschland: Mainz, Speyer und Worms. Setzt man im Hebräischen die ersten Buchstaben dieser Orte zusammen, bekommt man das Wort »Schum« – Knoblauch. Sehr anschaulich und ein wenig selbstironisch. Was ich auch sehr mag, ist Hermann Strucks Bild eines galizischen Juden: alles in Grau und Schwarz gehalten, der Mensch ist wie im Boden verwurzelt. Sehr kennzeichnend für das Dilemma des deutschen Judentums, das oft von außen, von Osten, an seine religiösen Wurzeln erinnert wurde, was der Assimilation zum Teil erfolgreich entgegenwirkte.
Apropos Osten: Ich habe angefangen, Polnisch zu lernen. Einfach so. Aus der Überzeugung heraus, dass man seine Nachbarn kennenlernen muss. Hinzu kommt: Polen liegt zwischen meiner alten Heimat, der Ukraine, und meinem neuen Zuhause, Berlin. Ich lebe schon seit über zehn Jahren in Deutschland. Ich habe in Köln Abitur gemacht und in Berlin, Potsdam und Melbourne studiert. Meine Fächer waren Anglistik und Jüdische Studien.
Seit einem Jahr arbeite ich an einer Doktorarbeit. Im Gegensatz zu dem, was ich hier im Museum tue, geht es dabei nicht um jüdische Geschichte, sondern um die jüdische Gegenwart in Deutschland, genauer gesagt um junge Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion. Sie machen über 90 Prozent der Mitglieder in den jüdischen Gemeinden aus, bleiben aber irgendwie eine große Unbekannte für die Alteingesessenen. Und für die nichtjüdische Umgebung sowieso.
Ich selbst gehöre schon zu der Generation von Zuwanderern, die zum größten Teil hier sozialisiert ist. Ich habe also die nötige Distanz, das Thema wissenschaftlich zu beleuchten. Das merke ich sehr deutlich, wenn ich zum Beispiel meine Eltern in Köln besuche. Wir sprechen zwar Russisch miteinander, aber auf unterschiedlichen Frequenzen. Ich bin gern bei meinen Eltern, aber noch viel lieber in Berlin, wo ich in Kreuzberg zusammen mit meinem Freund lebe. Bei meinen Eltern gibt es leckere Gefilte Fisch, bei uns in Kreuzberg ebenso leckeres türkisches Essen.
Leider kenne ich von meinen Nachbarn in Kreuzberg nur den Türken, der den Lebensmittelladen führt, wo ich immer einkaufe. Sonst niemanden. Das ist nicht gut. Da sollte ich mir wohl als Nächstes vornehmen, Türkisch oder Arabisch zu lernen. Orientalisch zu kochen, habe ich schon gelernt, bei einer Cousine in Israel, die mit einem marokkanischen Juden verheiratet ist.
VERWANDTE Überhaupt habe ich Glück mit meiner Verwandtschaft, denn sie hat sich sehr international verheiratet. Schon sieben Mal war ich in Italien, in der Nähe von Neapel – dank meiner Tante, die noch zu Sowjetzeiten einen Italiener zum Mann nahm. Die beiden haben zwei Töchter, meine Cousinen, mit denen ich Italienisch reden muss. Ihr Vater, mein Onkel Anselmo, träumt davon, in der ukrainischen Provinz eine Pizzeria aufzumachen.
Ich denke, das wäre bestimmt auch ein schönes Thema für eine Doktorarbeit: kulinarische Transmigration. Aber meines steht schon lange fest. Ich schreibe am Institut für Europäische Ethnologie der Berliner Humboldt-Universität über junge russischsprachige Juden und ihr Bild von Berlin. Die Methode des qualitativen Interviews gibt mir und den Lesern meiner Arbeit die Chance, diese Menschen kennenzulernen. Ein gemeinsames Erlebnis – ein Spaziergang zu den von ihnen am meisten besuchten Orten in Berlin – bietet die Möglichkeit der teilnehmenden Beobachtung. Ich bin sehr gespannt, welche Landkarten sich ergeben werden, ob diese kognitiven Stadtpläne der einzelnen Teilnehmer sich überschneiden und welches gemeinsame Bild von Berlin am Ende entsteht.Natürlich habe auch ich meine bevorzugten Orte in Berlin. Aber die darf ich nicht verraten. Also gut, in der Hoffnung, dass die russischsprachigen Teilnehmer der Studie diese Zeitung nicht lesen, kann ich mich hier outen: An erster Stelle steht für mich die Bibliothek der Gemeinde in der Fasanenstraße, Nummer zwei ist der Neubau des Jüdischen Museums von Libeskind. Und dann vielleicht noch die Kuppel der Synagoge in der Oranienburger Straße: so präsent, so auffällig in der grauen Berliner Skyline.
café Ansonsten ist in meinem Leben ein kleines Café ganz wichtig: das »Sofia« in der Wrangelstraße in Kreuzberg. Denn dort arbeite ich. Andere Leute wundern sich vielleicht, warum man mit seinem Computer in ein Café geht und mitten in dem Lärm schreibt. Aber ich brauche immer eine gewisse Geräuschkulisse, sogar beim Schreiben. Beim Lesen hingegen habe ich es lieber, wenn es still ist. Aber fürs Schreiben mache ich sogar zu Hause Musik an oder gehe eben an einen Ort, wo viele Menschen sind.
Zweimal in der Woche gehe ich joggen, außerdem mache ich Yoga. Und dann habe ich noch ein Hobby, das etwas ungewöhnlich ist. Es stammt aus meiner Schulzeit in Dnepropetrowsk: Luftakrobatik. Der Verein, bei dem ich in Friedrichshain trainiere, hat den wunderbaren Namen »Verein zur Überwindung der Schwerkraft«. Das trifft den Kern der Sache. Ich fliege zwar nur in zwei Meter fünfzig Höhe, aber auch das tut gut. Und es übt, Balance zu halten – sowohl im weißen Trikot auf dem Trapez aus Kristallglas, als auch in Jeans im richtigen Leben, im Museum oder an der Uni.