Vor Kurzem besuchte CDU-Chef Friedrich Merz das Jüdische Gymnasium Moses Mendelssohn in Berlin-Mitte, um mit rund 30 Schülerinnen und Schülern über ihre Sorgen im Angesicht der antisemitischen Demonstrationen in Deutschland zu sprechen. Zwei der Teilnehmerinnen, Ethel und Shelley, gehen in die zwölfte Klasse. Im Interview sprechen die 16-Jährigen darüber, wie sich ihr Leben seit den Terrorangriffen der Hamas verändert hat.
Ethel und Shelley, wie fühlt ihr euch, wenn ihr Nachrichten schaut?
Ethel: Seit dem 7. Oktober laufen bei uns jeden Tag Nachrichten. Anfangs war es sehr seltsam, weil alles in Israel ganz plötzlich und sehr schnell passiert ist. Dann wurde es bedrohlich und panisch, weil ein Großteil unserer Familie dort lebt. Man kann auch nicht wirklich ruhig schlafen oder auch nur Dinge erledigen, weil ich immer im Hinterkopf habe, dass gerade Leute aus dem eigenen Volk, aus der eigenen Religion bedroht und attackiert werden. Wir fühlen uns hier in Berlin einfach auch nutzlos.
Inwiefern?
Ethel: Ich persönlich habe das Gefühl, als ob ich mich eher verstecke, statt wirklich zu dem zu stehen, was ich bin. Zum Beispiel trage ich keinen Davidstern mehr oder wechsele die Straßenseite, wenn ich aus der Schule komme. Ich habe einfach keine Stimme. Denn obwohl ich eine Jüdin aus Israel bin, kann ich in Deutschland jetzt nicht viel gegen den Angriff auf meine Heimat machen.
Shelley: Als ich gesehen habe, wie in Berlin zum Beispiel Häuser mit Davidsternen gekennzeichnet wurden, hätte ich normalerweise gedacht, dass ich nach Israel gehen kann, wenn es zu antisemitischen Vorfällen kommt. Doch wenn man sich die Situation anschaut, wäre ich auch in Israel nicht sicher. Genauso wenig bin ich aber gerade in Deutschland sicher. Hier muss ich Angst haben, mich öffentlich als Jude zu zeigen. Und das macht mich einfach ein bisschen traurig, weil ich meine Meinung nicht öffentlich sagen kann, aus Angst, bedroht zu werden.
Habt ihr das Gefühl, dass die Politik euch schützen kann?
Ethel: Ich würde sagen, es ist ein Fifty-fifty-Ding. Auf der einen Seite schon, weil Antisemitismus ein wichtiges Thema ist, das auch oft angesprochen wird. In Berlin kommt es zu vielen Situationen, in denen Judenhass bekannt gemacht wird. Aber auf der anderen Seite hab ich das Gefühl, dass nicht viel gemacht wird. Jeder sagt zwar, dass er etwas gegen Antisemitismus unternehmen möchte, aber am Ende des Tages zählen nicht die Worte, sondern die Taten.
Was müsste aus eurer Sicht passieren?
Shelley: Ich finde, es ist richtig wichtig, dass sich genug Leute im Nahen Osten auskennen und erst dann gucken, welche Position sie vertreten. Ihnen muss bewusst werden, dass es in keiner Weise okay ist, Terror zu verharmlosen oder sogar gutzuheißen.
War es für euch aufregend, dass Friedrich Merz zu Besuch gekommen ist?
Shelley: Ich habe es noch nie erlebt, in so einer kleinen Gruppe mit jemandem wie ihm zu sprechen. Die Gespräche mit anderen Politikern fanden mit so vielen anderen Schülern statt, dass man nicht wirklich etwas sagen konnte.
Worum ging es im Gespräch?
Ethel: Wir haben ihm gesagt, dass unsere Familie, Freunde und viele Bekannte in Israel leben und wir uns ständig Sorgen machen müssen, ob sie überleben werden. Außerdem bekommen wir den zunehmenden Antisemitismus hier in Berlin tatsächlich zu spüren – auf Demonstrationen, aber auch online.
Habt ihr persönlich in letzter Zeit Anfeindungen erlebt?
Shelley: Ich wurde auf TikTok von Leuten blockiert, die ich persönlich kenne und die sich als Palästina-Unterstützer herausgestellt und den Terror verharmlost haben. Außerdem wurden meine Chats mit Screenshots gepostet.
Ethel: Ich habe selbst gesehen, wie in meiner Nachbarschaft Leute bespuckt, geschlagen und beleidigt wurden. Die Polizei hat Anzeigen aufgenommen, aber damit erreicht man nicht viel. Ich habe aber auch Gutes gesehen. Wir sind die einzige jüdische Familie in unserem Wohnhaus, und unsere türkischen Nachbarn sind mit einem dicken Blumenstrauß vorbeigekommen, als sie die Nachrichten gesehen haben. Damit haben sie uns das Gefühl gegeben, an unserer Seite zu stehen, egal, wie viel Hass wir sonst zu spüren bekommen.
Trefft ihr Vorsichtsmaßnahmen?
Shelley: Meine Mutter und meine Schwester sagen mir, dass ich auf der Straße kein Hebräisch mehr sprechen darf. Ich soll auch draußen keinen Davidstern mehr tragen. Teilweise werden wir von der Schule abgeholt, weil unsere Eltern Angst haben, dass irgendetwas passieren könnte. Man sieht ja, dass wir aus einer jüdischen Einrichtung kommen.
Ethel: Bei uns gab es in den ersten Tagen die Frage, ob man noch zur Schule kommen soll oder nicht, weil immer die Gefahr besteht, dass etwas passieren kann. Mittlerweile ist das Gefühl von Angst schwächer geworden. Aber trotzdem bekommen wir zum Beispiel in der S-Bahn mit, dass Leute antisemitische Dinge sagen, und dann fühlen wir uns gehemmt. Denn die Frage ist, ob wir in der Öffentlichkeit dazu etwas sagen oder aus Sicherheitsgründen schweigen sollten. Natürlich möchten wir uns nicht verstecken und den Menschen das Gefühl geben, dass sie ohne Widerspruch sagen können, was sie wollen, aber auf der anderen Seite will man sich nicht selbst in Gefahr bringen.
Und wie macht ihr das bei Freunden oder Freunden von Freunden? Das ist ja eine schwere Abwägung.
Shelley: Also wenn es Leute sind, die mir wirklich nahestehen, dann habe ich keine Angst zu sagen, dass so etwas nicht geht. Ich finde, dass es dann auch gerechtfertigt ist, den Kontakt abzubrechen. Auch bei nichtjüdischen Freunden, wenn sie sich nicht bei uns melden. Jeder weiß, dass wir Familie in Israel haben, und es hat nichts damit zu tun, ob man auf der Seite Israels oder Palästinas steht. Es geht hier um Empathie. Nicht einmal zu fragen, wie es einem in dieser Situation geht, finde ich einfach gefühllos.
Gibt es euch Hoffnung, wenn Politiker an eure Schule kommen?
Shelley: Der Besuch hat mir gezeigt, dass Menschen auf unserer Seite stehen. Das nimmt mir trotzdem nicht die Angst, mich öffentlich als Jude zu zeigen. Solidarität ist wichtig, aber mir ist auch wichtig, dass ich in meinem Land, in dem ich geboren und aufgewachsen bin, keine Angst haben sollte, mich zu zeigen.
Mit den beiden Schülerinnen sprach
Nils Kottmann.