Porträt der Woche

»Ich sehe Farben von Tönen«

»Früher war Musik meine Religion; seit der Geburt meiner Kinder lebe ich koscher«: Elisaveta Blumina (44) lebt in Berlin. Foto: Frances Marshall Photography

Das Judentum fand in meiner Kindheit vor allem in der Küche statt. Meine Mutter hat immer gekocht: Gefilte Fisch, Suppe mit Kneidlach und andere jüdische Gerichte. Ihre Eltern haben noch Jiddisch miteinander gesprochen, wenn sie wollten, dass die Kinder nicht verstehen, was sie sagen. Leider habe ich diese Großeltern, die die deutsche Belagerung von Leningrad überlebt hatten, nicht mehr kennengelernt.

Pessach Sonst hat kein religiöses Leben bei uns stattgefunden, obgleich wir um die Ecke von der Synagoge gewohnt haben. Ich erinnere mich allerdings gut, dass wir zu Pessach dorthin gingen und Mazzot gekauft haben, eingeschlagen in großes weißes Papier.

Zu meiner Zeit war es in der Sowjetunion schon etwas liberaler, aber zuvor konnte es passieren, dass ein jüdischer Student seinen Studienplatz verlor, wenn er die Synagoge besuchte. Ich trug den Magen David, weil ich das einfach wollte, aber unsere Religion zu Hause war die Musik.

Mein Deutsch habe ich durch die »Tagesschau« gelernt.

Ich wurde in Leningrad geboren. Als Kind wollte ich Ballerina werden, aber meine Mutter, die Konzertpianistin Mara Mednik, sah mich als Musikerin. Mit drei Jahren hatte ich angefangen zu tanzen. Als man an der weltberühmten Waganowa-Ballettakademie meine Handwurzelknochen geröntgt und errechnet hat, dass ich mindestens 1,77 groß werden würde, war man nicht mehr an mir interessiert. Nun wollte ich Geigerin werden, aber meine Mutter meinte, der Flügel sei schon da – und so studierte ich Klavier.

Mit 19 Jahren hatte ich in Hamburg einen Internationalen Wettbewerb gewonnen, daraufhin bekam ich ein Stipendium. So war ich nach Deutschland gekommen, wo ich zunächst ganz allein lebte. Mein Deutsch habe ich durch die »Tagesschau« gelernt, indem ich alles nachsprach. Dazu muss ich sagen, dass ich Sprachkurse hasse. Trotzdem spreche ich heute fließend sechs Sprachen.

Einige Zeit nach mir kam auch meine Mutter nach Deutschland. Sie hat 15 Jahre als Professorin für Kammermusik und Korrepetition an der Hamburger Musikhochschule gelehrt, danach in Berlin und in Rostock. Mein Vater ist Konstrukteur für Weltraumschiffe gewesen. Leider ist er mit 48 Jahren gestorben.

ENTDECKUNGEN Mein Verhältnis zum Judentum wurde sofort ein anderes, als ich nach Deutschland kam. In Hamburg wurde ich Gemeindemitglied. Es war mir sehr wichtig, diesen Kontakt zu haben. Ich kannte keine jüdischen Feiertage und christliche übrigens auch nicht. Als in meinem ersten Jahr Chanukka und Weihnachten zusammenfielen, ging ich fröhlich in die Synagoge und wünschte allen »Frohe Weihnachten!«. Da sah man mich sehr seltsam an.

Ich liebe das Organisieren. In Schönebeck habe ich drei Jahre lang ein Festival organsiert, das hieß Giluim, was Entdeckungen bedeutet. Leider ist unser Sponsor, ein begeisterter Israel-Fan, gestorben. Seine Idee war es, israelische Musiker nach Berlin zu bringen und Verbindungen herzustellen.

Im Museum Synagoge Gröbzig, das ist eine original erhaltene Synagoge in der Nähe von Halle, habe ich zweimal im Jahr eine Reihe unter dem Titel »Musik im jüdischen Kontext« organisiert. Vor acht Jahren habe ich dann die künstlerische Leitung des Hamburger Kammermusikfests International übernommen.

KOMPONISTEN Leider mussten wir in diesem Jahr wegen Corona alle Konzerte absagen, wovon drei in der Elbphilharmonie hätten stattfinden sollen. In den vergangenen Jahren hatte ich verschiedene Themen, wie zum Beispiel den jüdischen Komponisten Mieczysław Weinberg, dessen Werk wir in Deutschland als Erste aufführten. Ich habe seit vielen Jahren seine Musik gespielt, auf CD aufgenommen und so einem neuen Publikum nahegebracht. Ein anderes Thema war das Thema »Grenzenlos«, in dem Migrationen gezeigt wurden; zum einen die russische Emigration nach Frankreich mit Werken von Djagilew, dem Begründer der Ballets Russes.

Ein anderes Thema in diesem Zyklus war die jüdische Emigration aus Deutschland in die USA. Und dann habe ich einen libanesisch-christlichen Emigranten aufgeführt, der nach Paris emigriert war. Er heißt Bechara El-Khoury, und ich habe ihn hierzulande ein wenig bekannt gemacht.

Ich liebe das Organisieren. In Schönebeck habe ich drei Jahre lang ein Festival organsiert, das hieß Giluim, was Entdeckungen bedeutet.

Ein anderer jüdischer Komponist den wir spielten, war Grigori Frid, der in Deutschland ziemlich unbekannt ist. Er lebte in Moskau und war ein phänomenaler Mensch, denn er war nicht nur Komponist, sondern auch ein exzellenter Maler und sehr guter Schriftsteller. Es ist mir also ein Anliegen, unbekannte Komponisten, die ich selbst gut finde, hervorzuholen und ihnen ein Publikum zu verschaffen.

RELIGION Ich bin religiöser geworden, als mein ältester Sohn in Florida geboren wurde, wo ich geheiratet hatte. Damals war ich viel unterwegs, lebte in Rom, in Genf und danach in Madrid, wo ich mit einem Orchester gespielt habe und wo mein zweiter Sohn zur Welt kam.

In dieser Zeit habe ich angefangen, koscher zu essen. Es ist nicht leicht zu erklären, warum. Auf jeden Fall habe ich während der ersten Schwangerschaft damit begonnen – und auch damit, mir selbst Hebräisch beizubringen. Vertiefte Kenntnisse in der Religion bekam ich aber erst, als meine Kinder die jüdische Schule besuchten und wir in Dublin lebten.

Mir ist klar, dass das alles sehr chaotisch klingt, aber das war es nicht. Ich habe in den jeweiligen Städten unterrichtet und ganz viele Konzerte gespielt. Die kleine Chabad-Gemeinde in Dublin war für mich sehr wichtig, weil die Leute dort sehr offen waren und sich auch um meine Kinder gekümmert haben. Und es gab einen fantastischen Rabbiner, bei dem meine beiden Söhne ihre Barmizwa hatten.

Seit zwei Jahren wohne ich nun in Berlin, weil mein inzwischen 16-jähriger Sohn, ein hochbegabter Fagottist, hier das Musikgymnasium Carl Philipp Emanuel Bach besucht.

ISRAEL Vor sieben Jahren reiste ich zum ersten Mal nach Israel. Einfach so zu Pessach. Vom ersten Tag an wusste ich, dass ich da zu Hause bin. Wenn ich jetzt dort bin, verstehe ich jedes Mal ein bisschen mehr, wie die israelische Gesellschaft funktioniert. So bin ich inzwischen mit einigen drusischen Familien befreundet. Seit Jahren unterrichte ich regelmäßig in Safed im Norden des Landes, und sie haben meine Meisterkurse besucht.

Wenn ich in Israel bin, unterrichte ich drusische Kinder und orthodoxe Mädchen. Leider kann ich das wegen Corona in diesem Jahr nicht machen.

Was vielleicht nicht sehr bekannt ist: Die Drusen sind hochmusikalisch und geradezu fanatisch, was die Musik angeht. Da spielt jedes Kind ein Instrument. Seit zwei Jahren unterrichte ich, wenn ich in Israel bin, auch an einer Schule für religiöse Mädchen in Jerusalem. Auch bei diesen Mädchen aus orthodoxen Familien stelle ich eine große Liebe zur klassischen Musik fest, zu Mozart, zu Bach. Das fasziniert mich total.

Es ist sehr bedauerlich, dass ich in diesem Jahr wegen Corona nicht nach Israel reisen konnte. Leider wurden auch zwei Konzerte, die für Oktober in Tel Aviv geplant waren, abgesagt. Mir fehlt das sehr.

Hinzu kommt, dass der israelische Komponist Uri Brener, der meine Art zu spielen sehr schätzt, speziell für mich komponiert. Durch ihn habe ich auch andere Komponisten kennengelernt, die für mich geschrieben haben. Man muss wissen, dass das Leben für Komponisten im kleinen Israel sehr schwierig ist. Deshalb habe ich ein wenig die Patenschaft für sie übernommen.

MALEREI Vor einigen Jahren hatte ich dem Fagottisten Mathias Baier, mit dem ich zusammen für ein Album unseres Trios »Ensemble Blumina« den Klassik-Echo gewonnen habe, erzählt, dass ich Synästhetikerin bin. Schon als Kind habe ich, wenn ich einen Ton hörte, ganz genau gewusst, welche Farbe dem entspricht. Der polnische Komponist Krzysztof Penderecki kannte das auch, ebenso der russische Pianist und Komponist Alexander Skrjapin.

Eines Tages kam Mathias mit Acrylfarben zu mir und forderte mich auf, zu malen. Also habe ich erst einmal angefangen, das, was ich spielte, aufs Papier zu bringen. Herausgekommen sind sehr bunte Bilder. Mittlerweile habe ich das professionalisiert und auch schon beide Künste miteinander kombiniert. In einem Konzert, in dem ich den Klavierzyklus »Bilder einer Ausstellung« von Mussorgski spielte, habe ich dazu die Bilder aufgehängt, die parallel zu den Proben entstanden sind.

Vor einem Jahr hatte ich dann eine ziemlich große Ausstellung in einer Galerie am Gendarmenmarkt. Doch obgleich ich von einigen Malern sehr schöne Komplimente für meine Bilder bekommen habe, empfinde ich mich in erster Linie als Musikerin. So beginnt mein Tag immer damit, dass ich erst einmal Klavier übe.

Aufgezeichnet von Gerhard Haase-Hindenberg

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