Ist der Herausgeber des »Freitag« und »Spiegel Online«-Kolumnist, Jakob Augstein, ein Antisemit? Das Wiesenthal Center sieht es so und setzte ihn auf Platz neun seiner Liste der schlimmsten antisemitischen Verunglimpfungen 2012. In den Medien wird seit Wochen darüber debattiert, wie berechtigt dieser Vorwurf ist und ab wann Israelkritik antisemitisch ist. Aber kommt diese Diskussion auch in der Gemeindebasis an? Lesen Sie einige Meinungen hierzu:
»Die Diskussion kommt viel zu spät«
Augsteins Aussagen stehen meiner Ansicht nach absolut zu Recht auf der Liste der zehn auffälligsten antisemitischen und antiisraelischen Verleumdungen. Ich bin, ehrlich gesagt, verwundert, dass seine Kolumnen erst in den Blickpunkt geraten sind, als sie von Henryk M. Broder und vom Wiesenthal Center kritisiert wurden. In der jüdischen Community waren sie schon seit Längerem ein Thema. Wenn Augstein vom »Gängelband eines anschwellenden Kriegsgesangs« spricht, an dem die israelische Regierung die Welt führt, greift er auf antisemitische Klischees in Reinform zurück. Dass das nicht problematisiert wurde, zeigt, dass diese Klischees anscheinend zum Mainstream der deutschen Öffentlichkeit gehören. Ich finde es besorgniserregend, dass die Mehrheitsgesellschaft abblockt und die Frage, ob die Kritik an Augstein berechtigt sein könnte, nicht gestellt wird. Stattdessen wird man dafür kritisiert, Augstein mit dessen Ressentiments zu konfrontieren. Die fehlende Empathie Juden und vor allem Israel gegenüber empfinde ich insgesamt als beunruhigend.
Alexander Rasumny, 29, Augsburg
»Künstlich aufgebauscht«
Ich weiß gar nicht, ob ich genügend darüber gelesen habe, um etwas Aussagefähiges zu sagen. In meinem Bekanntenkreis ist die Augstein-Debatte kein Thema. Die scheint kaum jemanden zu interessieren. Ich habe mich auch mit der Wiesenthal-Liste nicht beschäftigt und könnte jetzt gar nicht sagen, ob das Center die Augstein-Beiträge nicht vielleicht auch sehr einseitig sieht. Man darf ja auch von deutscher Seite aus nie etwas kritisieren, was in Israel passiert. Es wird so viel rumgewühlt. In den Medien muss immer etwas stehen. Ich finde das Ganze etwas künstlich aufgebauscht.
Eldad Stobezki, 61, Frankfurt am Main
»Ganz andere Qualität«
Über Antisemitismus haben wir immer gesprochen, vor allem, als ich jung war, in meiner Heimat. Die aktuelle Augstein-Debatte verfolgen meine Bekannten und ich weniger. Ich finde auch, dass der Antisemitismus hier in Deutschland nicht so stark ist, wie der, den wir früher erlebt haben. Der hat eine ganz andere Qualität. Ich bin der Meinung, solange Juden existieren, wird es Antisemitismus geben. Das ist historisch, man kann das nicht ändern. Im Fall Augstein liegt das in der Familie und an der Erziehung. Meine Freunde und ich bewegen uns in einem ganz anderen Kreis. Meine Klavierschüler stammen aus den unterschiedlichsten Ländern: Deutschland, China, Frankreich, Tschechien. Sie wissen genau, dass ich Jüdin bin und kommen gerne.
Anna Filipova, 62, Erlangen
»Antisemitismus gibt es auch in Frankreich«
Ich habe noch gar nichts darüber gelesen, und es hat mich jetzt auch noch keiner darauf angesprochen. Ich weiß nur, dass Henryk M. Broder etwas geschrieben hat, habe es aber nicht gelesen, obwohl ich Broder sehr mag. Antisemitismus ist jetzt auch kein Thema, über das wir hier ständig sprechen. Ich bekomme natürlich einiges durch die Medien mit, aber ich persönlich habe noch keinen Antisemitismus erlebt und bin schon seit mehr als 50 Jahren in der Bundesrepublik. Ich habe nette christliche Freunde. Antisemitismus gibt es ja nicht nur in Deutschland, sondern überall: in Frankreich, in Italien, er wird nicht aussterben, das Thema wird immer bleiben.
Irith Fröhlich, 61, Düsseldorf
»Deutschland tut viel für das Gedenken«
Da ich seit Oktober vergangenen Jahres sehr krank bin und kaum aus dem Haus oder in die Gemeinde komme, informiere ich mich über das Internet und bin in verschiedenen russischsprachigen Foren unterwegs. Über Herrn Augstein und seinen Antisemitismus kann ich allerdings nichts sagen. Judenfeindschaft ist immer unangenehm. In den Foren diskutieren wir nur über den allgemeinen Antisemitismus in Deutschland. Alle, die aus Russland oder der UdSSR kamen, kennen die Geschichte des Holocaust mit den sechs Millionen vernichteten Juden. Fast jeder Zweite sagt, dass ihm die Entscheidung, in die Bundesrepublik umzusiedeln, wegen der Schoa nicht leichtfiel. Dennoch ist es richtig, dass wir Juden nach Deutschland kamen, weil sie hier sehr viel gegen Antisemitismus unternehmen. Die Geschichte um Jakob Augstein ist nicht so wichtig, wie generell das Thema Antisemitismus.
Gregor Livertorsky, 59, Düsseldorf
»Ganz überflüssig«
Ich halte die Publikationen von Jakob Augstein für ganz und gar überflüssig. Kritik an Israel ist natürlich legitim. Nirgendwo wird der jüdische Staat mehr kritisiert als in Israel selbst. Aber Augstein überschreitet die Grenzen der Kritik bei Weitem, wenn er etwa behauptet, dass Israel durch eigene Schuld sein Lebensrecht gefährde. Wenn ich solche Sätze lese, rege ich mich furchtbar auf. Augstein trägt dazu bei, dass mittlerweile über 60 Prozent der Deutschen Israel äußerst kritisch sehen. Mit meinen 80 Jahren Lebenserfahrung rate ich Augstein, mehr nachzudenken. Er sollte sich einmal in die Lage von Juden versetzen und sich fragen, wie es auf uns wirkt, wenn er Gaza als »Lager« bezeichnet. Schlimm auch, dass ein Großteil der deutschen Medien jemanden verteidigt, der auf der Top Ten der schlimmsten Antisemiten steht. Da fühle ich mich als deutscher Jude missverstanden und verletzt.
Max Schwab, 80, Halle
»Eine typisch deutsche Debatte«
Die Diskussion um Jakob Augstein ist für mich eine typisch deutsche Debatte. An ihr merkt man, dass das Verhältnis zwischen Deutschen und Juden nach wie vor kein normales ist. In meinem jüdischen Freundeskreis reden wir im Moment sehr viel über Augstein und seine Thesen. Alle haben den Eindruck, dass es schlicht Schwachsinn ist, was er schreibt. Er hat sich zudem klar und deutlich im Ton vergriffen. Allerdings sollte man sich nicht nur auf Augstein fokussieren: Seine Kolumnen stehen exemplarisch für einen Großteil der zynischen antiisraelischen Haltung der Linken. Dennoch fragen wir uns häufig, ob wir hinter allem antijüdische Ressentiments sehen, und was die beste Art und Weise ist, mit Israelkritik wie der von Augstein umzugehen. Darauf habe ich persönlich eine Antwort gefunden. Meiner Erfahrung nach ist es kontraproduktiv, Antisemiten als solche zu bezeichnen. Auf diese Weise erzeugt man in der Öffentlichkeit bloß eine Blockadehaltung. Es ist viel geeigneter, sich sachlich mit antisemitischen Positionen auseinanderzusetzen und sie zu widerlegen – was erfahrungsgemäß ziemlich einfach ist.
Oren Osterer, 31, München
»Das ist kein Thema«
Ich muss im Moment so viel arbeiten, dass ich weder zum Radiohören noch zum Fernsehgucken komme, daher habe ich die Debatte nicht so intensiv verfolgt. Ich habe zwar davon gehört, weiß aber nicht, wie sie und mit welchen Argumenten sie geführt wird. Ich kenne auch die Kolumnen von Herrn Augstein nicht. In meinem Bekanntenkreis war das kein Thema. Meine Freunde wissen, dass ich Jude bin und haben keine Probleme damit. Außer beruflich als Polizist – aktuell beim großen Neonazi-Aufmarsch in Magdeburg – bin ich noch nie mit Antisemitismus konfrontiert worden.
Roman Rasin, 35, Magdeburg
Zusammengestellt von Philipp Peyman Engel und Heide Sobotka