Horst Selbiger

»Ich musste viel kämpfen«

Herr Selbiger, Sie sind heute 90 Jahre alt geworden. Mazal tov!
Dankeschön.

Wie begehen Sie diesen Tag?
Freunde richten für mich eine kleine Feier aus. Und das Jüdische Museum Berlin hat mich aus Anlass des Geburtstags für morgen Abend zu einem Zeitzeugengespräch eingeladen. Beides freut mich sehr.

Sie haben den 9. November 1938 einmal als den Tag bezeichnet, an dem alles kippte. Als den Beginn der systematischen Judenverfolgung ...
Ja. Er markiert den Übergang von der Ausgrenzung der Juden hin zum Massenmord. Danach war nichts mehr wie zuvor.

Welche Erinnerungen haben Sie an den 9. November?
Die Pogrome begannen in Berlin am späten Abend des 9. November, und so erlebten meine Mitschüler und ich, damals zehn bis elf Jahre alt, den Morgen des 10. November 1938. Auch an diesem Tag liefen wir von der Weinmeisterstraße durch das Scheunenviertel, wo sehr viele Juden lebten und es viele jüdische Läden und kleinere Betriebe gab. Deren Schaufenster hatte der Mob zerschlagen, die Auslagen und Möbel waren geraubt oder lagen auf der Straße – und je weiter wir gingen, desto schlimmer wurde es.

Was sahen Sie dort?
Wir liefen nur noch über Glasscherben, der gesamte Boden war voll davon. In der Rosenthaler-/Ecke Sophienstraße war ein jüdisches Kaufhaus; wir sahen die randalierenden Plünderer. Die Pogrome waren nicht das Werk einzelner SA-Leute oder einiger Hitlerjungen. Diese Pogrome waren das Resultat eines Zusammenspiels von Massenloyalität mit einer verbrecherischen Diktatur, mit wütendem Rassismus und barbarischem Antisemitismus der deutschen Gesellschaft.

Was geschah mit Ihnen und Ihren Mitschülern nach den Pogromen?
Nach Schließung aller jüdischen Schulen begann im Sommer 1942 unsere Zwangsarbeit. Unser Jahrgang hatte gerade das achte Schuljahr vollendet. In einem Rüstungszulieferbetrieb stand ich an einem riesigen Bottich, in dem Trichloräthylen heiß gemacht wurde. Die anderen Arbeiter bekamen dafür Sonderzuteilungen an Vollmilch und Butter, die Juden selbstverständlich nicht. Die Zeit wurde immer unerträglicher, ständig gingen die Transporte verhafteter Juden vom Gleis 17 des Bahnhofs Grunewald in Richtung Vernichtungslager. Und immer öfter fragten wir uns: Wann sind wir dabei?

Wie sind Sie als 14-Jähriger mit dieser unvorstellbaren Situation umgegangen?
Wir Halbwüchsigen mussten täglich mit Tragödien fertig werden; fertig werden mit der Trennung von Großeltern, Eltern, Brüdern und Schwestern; fertig werden mit schwerster Kinderarbeit in Berliner Munitionsbetrieben; fertig werden mit der Suche nach Nahrung und Verstecken. 61 Träger des Namens Selbiger waren bereits oder wurden noch ermordet. Am 27. Februar 1943 umstellte die SS alle Betriebe, in denen Juden noch arbeiten durften, und alle Judenhäuser. Rund 10.000 Juden wurden an diesem Tag in Berlin verhaftet und in Sammellagern zusammengepfercht. In unserem Rüstungsbetrieb spielte sich das gleiche Drama ab.

Wie ging es dann weiter?
Wir wurden mit viel Spektakel auf die Lkws geladen, und wer nicht gleich konnte, dem wurde mit Schlägen und Schubsen mit dem Gewehrkolben nachgeholfen. Und da ich an dem Bottich mit dem kochenden Trichloräthylen nur in Hemd und Hose arbeitete, wurde ich ebenso mitgenommen, wie ich war, und ging in Hemd und Hose in den kalten Februarmorgen. Wir wurden mit rund 1500 bis 2000 Juden in die ehemalige Synagoge Levetzowstraße eingeliefert. Als wir dort von der SS sehr unsanft von den Lkws ausgeladen wurden, standen Frauen auf der Straße und klatschten Beifall. Drinnen wurden uns die jüdischen Kennkarten entzogen. Wir mussten eine Erklärung unterschreiben, dass unser Vermögen wegen kommunistischer und staatsfeindlicher Gesinnung beschlagnahmt sei. Und dann bekamen wir die Transportmarken zur Deportation nach Auschwitz um den Hals. Es war ein Zustand der Hilf- und der Hoffnungslosigkeit. Die Menschen schrien, schimpften, flehten, beteten, Kinder weinten – überall spürten wir diese erbarmungswürdige Hoffnungslosigkeit, denn fast jeder von uns ahnte oder wusste es bereits: Wir werden in den Tod geschickt.

Sie wurden in ein Sammellager in der Rosenstraße in Berlin deportiert, nach dem Protest von 1000 nichtjüdischen Bürgern, vor allem Frauen, die für die Freilassung ihrer jüdischen Verwandten demonstrierten, aber wieder freigelassen ...
Ja, und nach weiteren, unsäglichen Leiden stand ich dann im Mai 1945 befreit vom Faschismus, aber ohne Geld, von Gott verlassen und ihn schmähend, Rachegedanken erwägend wegen all dieser Schmach und Schande, die uns widerfahren war, in den Trümmern der zerbombten Straßen Berlins; 17 Jahre alt, mit all diesen Traumata in Kindheit, Jugend und Pubertät, unterernährt und krank durch die jahrelange schwerste Zwangsarbeit und Mangelernährung, extrem traumatisiert durch die stündliche Angst vor der eigenen Vernichtung, ohne meine ermordete Großfamilie, ohne Schulabschluss und ohne Berufsausbildung. 4,5 Millionen Glaubensgenossen und deren 1,5 Millionen Kinder waren erbarmungslos vernichtet worden, nur weil sie Juden waren. So wuchs in mir ein Panzer aus Narben an Leib und Seele, der immer dichter und horniger wurde.

Wie viele andere Verfolgte gingen Sie nach Gründung der DDR 1949 nach Ost-Berlin. Ein bewusster Schritt?
Natürlich! Die Entnazifizierung in Westdeutschland war zum Stillstand gekommen. Sogar das Gegenteil war eingetreten: Alte Nazis witterten Morgenluft im Kalten Krieg. Konrad Adenauer hat Deutschland mit der Änderung des Grundgesetzes, insbesondere mit dem Artikel 131, auf einen falschen und antidemokratischen Weg gebracht. Dadurch konnten die Nazis wieder in ihre alten Positionen zurückkehren. Also saßen sie 1949 auch wieder im neu gewählten Bundestag, in der Wirtschaft und in allen Ministerien der jungen Bundesrepublik ...

... zum Beispiel Hans Globke, der einst Hitlers »Rassegsetze
« auslegte und unter Adenauer einer der mächtigsten Männer der jungen Bundesrepublik wurde.
Globke wurde 1949 Ministerialdirigent im Bundeskanzleramt, 1950 Ministerialdirektor und war Leiter der Hauptabteilung für Innere Angelegenheiten der BRD. 1936 war er Verfasser des Kommentars zur Deutschen Rassengesetzgebung gewesen, den »Nürnberger Gesetzen«, die festlegten, wer Jude ist und wie viel Jüdischkeit er durch Erbfolge mitbekommen habe. In West-Deutschland hoch gelobter Staatssekretär Adenauers und in der DDR vom Obersten Gericht in Abwesenheit zu lebenslanger Haft verurteilt, eine Strafe, die er leider nie antreten musste.

Hat die sogenannte Wiedergutmachungspolitik der BRD auch eine Rolle gespielt, in die DDR zu gehen?
Was wollte die deutsche Bundesregierung, was wollte das deutsche Volk denn wiedergutmachen? Tote zum Leben erwecken? Aus Asche Menschen machen? Die Überlebenden mussten, um ein paar Mark zu bekommen, auf den »Entschädigungsämtern« vorstellig werden, endlose Fragebögen ausfüllen, an Eides statt versichern, dass sie mal einen silbernen Löffel besaßen, Zeugen benennen, die das bestätigen mussten. Alles war unglaubwürdig. Nichts wurde wieder gut. Nichts.

Erlebten Sie Antisemitismus in der DDR?
Nein. Ich erlebte eine Zeit der Gleichheit aller Menschen. Zum ersten Mal war ich nicht »der Jude« unter anderen. Ich war Deutscher unter Deutschen und Genosse unter Genossen. Ich erlebte eine wunderbare Zeit des Aufbruchs und konnte an der Arbeiter- und Bauernfakultät (ABF) endlich meine Schulbildung abschließen. Ich wurde Pressereferent beim Nationalrat der Nationalen Front, das war der Zusammenschluss der Parteien und Massenorganisationen in der DDR. Meine Ausbildung als Journalist verdanke ich vor allem dem jüdischen Altkommunisten Heinz Brandt. Er hatte sechs Jahre in Hitlers Zuchthäusern gesessen.

1964 wurden Sie im Auftrag der Zeitung »Neues Deutschland« zum Auschwitz-Prozess nach Frankfurt am Main zur Berichterstattung geschickt. Warum entschieden Sie sich, im Westen zu bleiben?
Erstens war ich vom Schicksal Heinz Brandts zutiefst erschüttert. Er gehörte zu der großen Gruppe der Kritiker an der Alleinherrschaft Walter Ulbrichts. Alle Kritiker wurden von Walter Ulbricht nach dem Aufstand am 17. Juni 1953 jetzt zusammengefasst als »Fraktion Herrnstadt/Zaisser«. Heinz Brandt wurde, wie alle anderen, degradiert, nach einer Verleumdungskampagne aus der Partei ausgeschlossen und in die Produktion geschickt. Das ist nur ein Indiz, für die Details wäre ein eigener Artikel erforderlich.

Wie haben Sie sich in der Bundesrepublik mit all den Alt-Nazis zurechtgefunden?
Gar nicht. Allein um meine Anerkennung als politisch und rassisch Verfolgter musste ich von der Antragstellung 1964 bis zur gerichtlich verfügten Anerkennung 1970 mehr als sechs Jahre durch zwei Instanzen kämpfen. Überall führten die Nazis im Hintergrund Regie. Dann ging der Kampf weiter: um die »Wiedergutmachung«. Die DDR hatte mir bereits 60 Prozent meiner Arbeitsunfähigkeit durch die Verfolgung amtlich bestätigt. Die BRD schloss sich dieser Meinung nicht an, erneut musste ich durch zwei Instanzen klagen und verlor schließlich den Prozess durch den Obergutachter Dr. Neye.

Mit welcher Begründung des Gerichts?
Neye zitierte in seinem Gutachten den folgenden Satz von einem gewissen Gotthard Schettler, der beweisen sollte, dass meine Verfolgungsschäden zweifelhaft seien: »Die jüdische Rasse scheint zu Gicht, Diabetes mellitus und familiärer Hypocholesterinämie ... zu neigen.« Also waren meine Gesundheitsschäden nicht verfolgungs-, sondern rassebedingt. Na bravo, Herr Doktor! Schettler blieb Elite und erhielt für seine »hervorragenden Arbeiten« bei der »Abwehr der Wiedergutmachungsansprüche« das große Verdienstkreuz mit Stern.

Sie berichten regelmäßig an Schulen von Ihrem Schicksal. Warum ist es Ihnen wichtig, der jüngeren Generation vom Holocaust zu berichten?
Es wird mir immer bestätigt, dass die Erinnerungen eines Überlebenden der Schoa intensiver und nachdrücklicher auf die Schüler wirken als nur die geschriebene Geschichte. Jedes Mal erlebe ich den Bann der Schüler, wenn man eine Stecknadel zu Boden fallen hören kann, wenn sie mitgehen, ihre klugen Fragen stellen und emotional erschüttert sind. Ich meine, dass es nicht leicht wird, sie mit rechten Ideen zu beeinflussen. Ich glaube, sie haben das Nachfragen gelernt und gelernt, dass es immer eine Alternative gibt. Eine Alternative zwischen »Was geht mich das an?« bis zum Lernen von Verantwortung, Mitgefühl, Zivilcourage und – wenn nötig – Verweigerung und Widerstand.

Mit dem Zeitzeugen sprach Philipp Peyman Engel.

Horst Selbiger wurde am 10. Januar 1928 in Berlin geboren. Er erlebte die Ausgrenzung durch das NS-Regime und war Augenzeuge der Pogrome im November 1938. Ab 1942 musste er Zwangsarbeit leisten. Im Februar 1943 wurde er während der »Fabrikaktion« für einige Wochen festgenommen. Nach seiner Befreiung 1945 zog Selbiger zunächst in DP-Lager und nach Gründung der DDR 1949 nach Ostberlin. Er arbeitete als Journalist und nutzte eine Dienstreise zum Auschwitz-Prozess in Frankfurt 1964 zu seiner Flucht in den Westen.

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