Warum gibt es eigentlich kein koscheres Marzipan? Diese Frage habe ich mir schon oft gestellt. Für eine religiöse Jüdin, die in Lübeck aufgewachsen ist und die leckere Süßigkeit über alles liebt, ist das durchaus ein relevantes Thema. 2002 bin ich mit meiner Familie aus meiner Geburtsstadt Moskau nach Lübeck in den hohen Norden Deutschlands gekommen. Da war ich gerade einmal vier Jahre alt. Meine Oma mütterlicherseits wohnte bereits in Lübeck. Wir sind dann erst einmal zu ihr gezogen.
Mein Vater ist russischer Tatar und Muslim. Die Religion spielt für ihn allerdings keine große Rolle. Meine Mutter ist russische Jüdin. In Moskau habe ich noch Verwandte, die wir regelmäßig besuchen. In diesem Sommer ist es wieder so weit. Derzeit habe ich noch die russische Staatsbürgerschaft, wobei ich jetzt auf die deutsche umsteigen möchte.
schabbat Als Kind war ich sehr aktiv, chaotisch und sicherlich auch ein Stück weit rebellisch. In der Schule bin ich häufig angeeckt, und meine Lehrer habe ich mit Fragen genervt. Ich wollte immer alles genau und im Detail wissen. Ich glaube, das ist auch einer der Gründe, warum ich mich so gut mit dem Judentum identifizieren kann. Das Fragen ist immerhin ein wichtiger Bestandteil der religiösen Tradition.
Mein erster wirklicher Kontakt mit dem Judentum war 2010. Im Sommer schickte mich meine Mutter in ein Summer Camp der Lauder Foundation nach Österreich. Damals wusste ich noch nicht sehr viel über die Religion oder die kulturellen Traditionen. Ich erinnere mich noch sehr gut an meinen ersten Schabbat, den ich dort mit den anderen Jugendlichen zusammen gefeiert habe.
Meine Mutter ist ihrerseits überhaupt nicht religiös. Sie wollte einfach, dass ich eine schöne Sommerreise habe und mich mit Gleichaltrigen amüsiere. Irgendwie hatte sie unterschwellig aber auch so eine gewisse Angst, dass die Campleiter mich einer Art religiöser Gehirnwäsche unterziehen könnten. Die blieb aber glücklicherweise aus. Was von dem Camp blieb, war mein von da an gewecktes Interesse am Judentum.
j-academy Ich beschäftigte mich in meiner Freizeit immer mehr mit der Heiligen Schrift und der jüdischen Philosophie. Ich fing auch an, regelmäßig in unsere Synagoge in Lübeck – die glücklicherweise die Pogromnacht unbeschadet überstanden hatte – zu gehen. Die Gemeinde in Lübeck zählt rund 700 Mitglieder. Viele davon sind schon etwas betagtere Damen und Herren. Mein Wunsch, ein Jugendzentrum zu gründen, war daher nicht so einfach zu realisieren.
Aktuell nehme ich an der J-Academy in Berlin teil. Das Programm der Lauder-Yeshurun-Organisation funktioniert wie ein Freiwilliges Soziales Jahr. Für ein Jahr kommen junge Juden aus ganz Europa zusammen, um in Berlin, London, Jerusalem und New York verschiedene Praktika zu absolvieren. In Israel habe ich zum Beispiel schon bei der Israel Forever Foundation gearbeitet. Das ist eine Nichtregierungsorganisation, die sich weltweit für Israel einsetzt.
In London werde ich für vier Wochen ein Praktikum bei einer Privatbank machen. Ich bin schon gespannt, wie es an der Themse so sein wird. Die Zeit in Berlin, in der wir über die Academy viele Workshops machen und auch Synagogen besuchen, hat mir schon jetzt eine Menge gebracht.
jsud Ich mag Berlin. Es gibt hier viele Bars und natürlich viel zu sehen und zu erleben. Allerdings finde ich die Atmosphäre insgesamt etwas kühl. Berlin ist eben eine richtig hektische Großstadt. Nach meinem Jahr bei der J-Academy möchte ich mit dem Studium beginnen. Als Fächer kann ich mir Volkswirtschaftslehre und Sozialwissenschaft vorstellen. Am liebsten würde ich in Bielefeld studieren. In der Ecke dort wohnen eine Menge Freunde von mir.
In jedem Fall will ich mich an meinem Studienstandort weiter engagieren. Ich möchte dabei mithelfen, die Jüdische Studierendenunion Deutschland (JSUD) weiter aufzubauen und zu stärken. Mein größter Wunsch ist es, Madricha in einem Jugendzentrum zu werden. Mir ist es wichtig, mein Wissen an andere weiterzugeben.
Ich bin ein Energiebündel. Ich bin einfach nicht der Mensch, der gerne zu Hause auf der Couch chillt und nichts tut. Ich würde mich auch als ehrgeizig bezeichnen. Ich brauche einfach immer neue Herausforderungen.
familie Meine Mutter unterstützt mich in allem, was ich tue. Auch mein Vater steht voll und ganz hinter mir. Er hat allerdings wenig Zugang zum Judentum. Beide wünschen sich, dass ich glücklich bin mit dem, was ich mache. Sie lassen mir meine Freiheiten und wollen, dass ich meinen eigenen Weg gehe. Das bedeutet mir sehr viel.
Ich bin jetzt 20 Jahre alt. Zu meiner kleinen Schwester – sie ist 15 und wohnt bei meinen Eltern in Lübeck – habe ich ein gutes Verhältnis. Die Bindung zur Familie ist mir sehr wichtig. Ich bin ein Familienmensch durch und durch. Ebenso wichtig ist mir mein Judentum. Ich verstehe mich selbst als religiös.
Ich versuche, Schritt für Schritt koscher zu leben. Dabei nehme ich mir aber kein festes Ziel vor. Ich möchte einfach schauen, wohin mich die Zeit und mein Weg führen werden. Ich möchte mich von der Spiritualität des Judentums leiten lassen. Ich bete mehrmals am Tag. Dazu muss ich gar nicht in die Synagoge gehen. Gott ist für mich die alltägliche Realität und nicht irgendein ferner Sehnsuchtsort.
In meiner Freizeit interessiere ich mich sehr für Sport. Ich gehe einfach auf den Sportplatz und trainiere – mit dem, was ich habe: meinem Körpergewicht. Das mache ich, so oft ich nur kann. Das tägliche Workout ist toll. Es befreit den Kopf und bringt deinen Körper mit dem Geist wieder in Einklang. Ich betrachte meinen Körper als meinen Tempel. Ein gesunder Körper ist der Ausgangspunkt für alles. Wenn ich mich nicht gesund fühle, kann ich mich auch nicht engagieren.
Wenn ich Muße habe, male ich gerne, oder ich schreibe Gedichte. Dabei kann ich meinen Gedanken ungestört und frei ihren Lauf lassen. Gerade weil ich so eine Betriebsnudel bin, ist mir aber auch Schlaf sehr wichtig. Den brauchen wir nämlich zwingend, um einen guten Energiehaushalt aufrechterhalten zu können.
karneval Eine meiner weiteren großen Leidenschaften ist die Musik. Ich höre sehr gerne Klassik. Aber auch Britney Spears – ja, einige werden jetzt lachen – war und ist für mich immer noch ein großer Star. Wenn ich gute und fröhliche Musik höre, fange ich automatisch an zu tanzen. Tanzen ist wie Sport und damit gut für die Seele. Man kann einfach mal alles rauslassen und denkt nicht ständig an seine Sorgen und Probleme.
Ich habe 13 Jahre lang in einem karnevalistischen Tanzverein in Lübeck getanzt. Mit der Truppe sind wir regelmäßig zu Wettkämpfen in ganz Deutschland gereist. Das war harte Arbeit, aber auch eine super Sache. Die Liebe zum Tanz ist bis heute geblieben.
Ich weiß, dass ich noch jung bin, aber trotzdem bin ich mir schon sicher, dass ich etwas später mal eine große Familie mit Kindern haben möchte. Ich glaube fest daran, dass man auch als Frau Karriere und Familie unter einen Hut bringen kann. Es ist mir wichtig, Zeit für meine Kinder zu haben. Die Erziehung ist entscheidend für die Zukunft eines Kindes.
zukunft Wenn ich an meine eigene Zukunft denke, stelle ich mir oft die Frage, was eigentlich Erfolg für mich persönlich bedeutet. Ich denke, dass es wichtig ist, aus guten Gründen beruflich und damit auch finanziell erfolgreich zu sein. Ein stupider Job, auch wenn er viel Geld einbringt, ist jedenfalls nichts für mich. Was noch alles auf mich zukommt, wird sich mit der Zeit zeigen. Ich versuche immer, mir nicht allzu viele Gedanken zu machen. Immer optimistisch und realistisch zugleich zu sein, das ist mein Motto.
Ich bin momentan Single. Bei einem Partner ist mir wichtig, dass er neben Deutsch auch Russisch spricht. Das ist immerhin meine Muttersprache. Auch für die bilinguale Kindererziehung ist Russisch entscheidend. Ach so, und wenn mein zukünftiger Partner jüdisch ist, käme mir das sehr entgegen.