Natürlich kann man kokettieren und sagen: Die Heimat eines Musikers ist dort, wo die Musik ist. Das stimmt zwar, klingt aber mittlerweile sehr abgedroschen. Für mich fühlt es sich ebenso richtig an, jedem meiner Lebensabschnitte ein eigenes Heimatgefühl zuzuordnen. Drei Lebensabschnitte, drei Heimaten.
Geboren wurde ich 1970 in Dnepropetrowsk in der Ukraine. Dort bin ich aufgewachsen in einer zwar nicht gläubigen, aber von allen Seiten jüdischen Familie.
orte Als Ort meiner Kindheit empfinde ich zur Ukraine natürlich eine starke Bindung – zumal ich dort auch meine Frau kennengelernt habe. Wir waren damals zwölf Jahre alt und beide Teilnehmer eines Komponistenwettbewerbs, bei dem selbstverständlich meine Frau besser abgeschnitten hat als ich. In meiner ersten Heimat bin ich, seit ich hier in Deutschland lebe, nie mehr gewesen, aber ich telefoniere regelmäßig mit Leuten, die geblieben sind, mit ehemaligen Mitschülern, Lehrern, Freunden.
Als ich dann 19 war, brach ich auf nach Moskau. Nächste Station, nächste Heimat. Ich studierte Musikwissenschaft und Klavier. Parallel dazu hatte ich schon feste Anstellungen an verschiedenen Theatern – am längsten war ich am Majakowski-Schauspielhaus beschäftigt, einem der größten und bedeutendsten Theater Moskaus, erst als Korrepetitor, dann als musikalischer Leiter. 1997 die nächste Station: Deutschland. Mit von der Partie waren meine Frau und meine Mutter. Wir ließen uns in Hannover nieder.
Ich war für verschiedene Musikschulen tätig, war Mitarbeiter am Institut für Musikpädagogische Forschung der Musikhochschule Hannover und schickte weiterhin Bewerbungen, bis ich eines Tages im November 2001 am Münchner Gärtnerplatztheater die Möglichkeit bekam, vorzuspielen. Ich spielte vor und – wurde genommen! Seitdem bin ich in meiner dritten Heimat angekommen: München, einer Stadt, in der ich mich sehr wohl fühle.
ENTspanNUNG Von allen Städten, die ich in Deutschland kennengelernt habe, liegt mir München am nächsten. Hier wird viel und leidenschaftlich gearbeitet, und wenn die Arbeit erledigt ist, erlaubt man es sich zu entspannen, und zwar mit Vergnügen, Genuss und Niveau. Ich meine damit das gemütliche Beisammensein nach getaner Arbeit: Entspannung ist nicht das, was automatisch auf die Arbeit zu folgen hat, Entspannung ist Teil des Ganzen. Das wird in München, in Bayern überhaupt, praktiziert. Ich finde das eine sehr menschliche und mir nahe Philosophie. Dazu gehört auch, mit der Familie schön essen zu gehen.
Vor ein paar Wochen hatten wir Familienzusammenführung, weil meine Mutter endlich von Hannover zu uns nach München gezogen ist. So kann sie ihrem Enkel noch beim Wachsen zusehen. Immerhin ist mein Sohn schon in der dritten Klasse, an vielem interessiert und viel unterwegs. Er singt im Kinderchor, spielt gerne und gut Schach – ich habe gegen ihn schon lange keine Chance mehr –, macht Sport, ist FC-Bayern-Fan.
Dass er das alles wahrnehmen kann, bedarf einer guten Organisation und Abstimmung mit unserem Arbeitstag, und da wäre ich wirklich ohne meine Frau verloren. Wie ich ohnehin ohne meine Frau verloren wäre.
Sie ist ebenfalls Musikerin, Konzertpianistin, begleitet das Ballett des Münchner Nationaltheaters, tritt als Klaviersolistin auf und kümmert sich darum, dass bei uns alles irgendwie klappt. Das ist nicht einfach, zumal es in meiner Arbeitswoche keine voraussagbare Struktur gibt.
kapellmeister Als Solorepetitor und Kapellmeister am Gärtnerplatztheater verbringe ich natürlich die meiste Zeit mit Proben. Dirigiere ich, bereite ich mich gerne zu Hause auf das Werk vor, das es zu erobern gilt.
Man setzt sich mit der Kompositionsweise auseinander, analysiert das Stück musikalisch und stellt sich die entscheidende Frage: »Wieso hat der Komponist das so und nicht anders geschrieben?« Wenn man auf diese Frage eine Antwort gefunden hat, ist man angekommen. Das braucht allerdings seine Zeit, während der man Schritt für Schritt sein eigenes Verhältnis zur Komposition aufbaut. Darum geht es: um ein eigenes Verhältnis. Wenn der Dirigent am Pult nicht authentisch ist, ist er fehl am Platz.
Proben gibt es so gut wie jeden Tag. Außer am Sonntag, an dem es allerdings sehr wohl Vorstellungen gibt. Manchmal habe ich einen freien Tag, ganz so, wie sich der Spielplan eben ergibt. Eine Probe mit einem Solosänger dauert eine gute Stunde, eine szenische Probe bis zu sieben Stunden – mit einer Pause fürs Mittagessen und zwei kleineren Pausen zwischendurch. Eine Orchesterprobe darf nicht länger als zweieinhalb Stunden dauern, dafür sind Generalproben und Hauptproben unbegrenzt.
Für szenische Proben haben wir unsere Bühne in Grünwald, genau dort, wo früher die Villa von Rudolf Heß stand. München hat eben seine Geschichte. Hitler besuchte gerne das Gärtnerplatztheater, in dem ich jetzt dirigiere.
geschichte Ich werde nie vergessen, wie es für mich war, als ich auf diesen Balkon der heutigen Hochschule für Musik, den einstigen »Führerbau«, getreten bin, von dem aus Hitler sich immer all die Paraden auf dem Königsplatz angesehen hat. Ich stand da und dachte: »Das ist ein Zeichen der Geschichte.« Mir war kein bisschen mulmig zumute, nein, es war anders: In diesem Moment glaubte ich an die Geschichte und daran, dass sich Unrecht nicht halten kann.
Dass ich mich mit meinem Judentum beschäftigt habe, begann eigentlich mit meinem Umzug in eine zentrale Moskauer Kommunalwohnung am Tverskoy-Boulevard. Unweit davon habe ich eine chassidische Synagoge entdeckt. Die hat mich interessiert, und ich bin öfters hingegangen. Das könnte man meine erste wirkliche Berührung mit dem Judentum nennen.
Ich habe dann auch begonnen, in der Tora zu lesen und mich für jüdisches Leben zu interessieren. Bis heute hole ich mir gerne Inspiration aus der jüdischen Philosophie. Sie spricht mich an, hat wirklich Tiefe und kann helfen.
Ein weiser jüdischer Gelehrter hat einmal gesagt: »Ein Jude muss so sein wie eine Laterne. Dort, wo man ihn hinstellt, muss er Licht bringen.« Ich führe kein religiöses Leben, das ist in meinem Beruf gar nicht zu schaffen. Aber ich bin Mitglied der Gemeinde, und meine Frau und ich versuchen zu halten, was geht – auch für unseren Sohn. Er soll spüren, dass er dazugehört. Wir essen kein Schwein, und wenn wir zu Hause sind, zünden wir auch Kerzen.
oase Viele meiner Verwandten leben in Israel. Ich habe das Land intensiv bei einem Gastspiel mit dem Moskauer Majakowski-Theater kennengelernt. Das war 1996. Israel hinterließ einen unglaublichen Eindruck auf mich.
Ich werde nie vergessen, wie mich das erfasst hat – durch die Wüste zu fahren und plötzlich vor einer saftigen grünen Oase zu stehen, die wie aus dem Nichts auftauchte. Oder wie es war, mit dem Auto Richtung Jerusalem zu fahren – die aufgehende Sonne hing über der Silhouette der Stadt, wie eine riesige rosa Flamme. Man hat gespürt, wie man von einer Energie erfasst und durchströmt wurde.
Ich bin ja völlig offen dorthin gefahren, einfach glücklich, endlich einmal die Stadt zu sehen, über die ich schon so viel gelesen hatte. Aber das, was ich dann erlebte, war emotional riesig. Damit hatte ich nicht gerechnet. Da muss man dann erst wieder herunterkommen.
Wieder herunterzukommen, das gehört zu einem Musikerleben. Nach jeder Premiere erfährt man das. Bei mir dauert das so etwa zwei Stunden. Man ist verschwitzt, fertig und glücklich. Es ist gegen halb elf geworden, inklusive Applaus. Und dann ist ein Bierchen unter Kollegen etwas Wunderbares.