»Berlin ist meine und meines Vaters Geburtsstadt und Heimat. Auch meine Groß- und Urgroßeltern lebten dort. Leider lebe ich heute nicht mehr dort, da Freunde und Verwandte im Holocaust umkamen.« So wird in dem Band »Im Herzen immer ein Berliner« von Joachim Schlör ein jüdischer Emigrant zitiert. Ein anderer schreibt: »Ich war schon oft in Berlin und denke an die Stadt als meine.« Weiter heißt es: »Bin dort geboren. Zur Schule gegangen bis 1939. Und liebe die Stadt, aber verließ sie, um mein Leben zu retten.«
Die Geschichte der Berliner Juden lässt sich bis ins Mittelalter zurückverfolgen. Sie ist von Tolerierung, schrittweiser Assimilierung und Vertreibung gekennzeichnet. Die dauerhafte Ansiedlung begann vor 350 Jahren. Am 10. September 1671 erhielten die ersten beiden Familien einen Schutzbrief. Dieses Datum gilt seitdem als Gründungsdatum der Jüdischen Gemeinde zu Berlin.
»Sie kamen nicht freiwillig, sondern weil sie in Wien vertrieben wurden«, erzählt der Berliner Rabbiner Andreas Nachama. Nach dem Dreißigjährigen Krieg war Kurfürst Friedrich Wilhelm bestrebt, Zuwanderer nach Brandenburg zu holen, um zu dessen Wiederaufbau beizutragen. Neben den Hugenotten, die ab 1685 ins Land kamen, erlaubte er auch einigen wohlhabenden jüdischen Familien, sich in Brandenburg niederzulassen.
Das hatte allerdings seinen Preis: Das Privileg erlaubte den Juden die Niederlassung in der gesamten Mark, wies ihnen aber als Betätigungsfeld den Handel zu. Die Zünfte blieben ihnen versperrt. Neben den üblichen Steuern musste jede jüdische Familie eine jährliche Schutzgebühr zahlen. Auch der Bau von Synagogen blieb zunächst verboten, man traf sich in Privathäusern zum Gottesdienst. Erlaubt wurde ihnen aber, einen eigenen Friedhof an der Großen Hamburger Straße anzulegen - ein Beleg dafür, »dass ihre Anwesenheit auf Bleiben ausgerichtet war«, so Nachama.
Dass sie sich trotz aller Schwierigkeiten und obwohl es auch damals bereits Judenhass gab, fürs Bleiben entschieden, beschreibt der Rabbiner mit den Worten seines berühmten Vorgängers Leo Baeck als »das ewige ›Dennoch‹ «; es prägte die Haltung der Berliner Juden durch die Jahrhunderte.
Mit dem Edikt von 1812 wurden Juden zu preußischen Staatsbürgern; dennoch blieb es schwierig, in den Staatsdienst zu kommen. »Es gab immer Vorbehalte«, sagt Historiker Julius Schoeps. Nach der Reichsgründung 1871 versuchten Juden deshalb verstärkt, sich an die Mehrheitsgesellschaft anzupassen. »Sie verstanden sich als deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens«, so Schoeps.
Juden wurden Teil des geistigen und kulturellen Erbes Berlins. Philosoph Moses Mendelssohn, Schriftstellerin Rahel Varnhagen oder Mathematiker Albert Einstein stehen stellvertretend für nur einige Facetten.
In den 1920er Jahren lebten rund 160.000 Juden in Berlin, wohnten und arbeiteten in der Stadt, gestalteten und prägten sie. Etwa 90.000 emigrierten nach 1933. Rund 55.000 Menschen wurden Opfer der Schoa, dem organisierten, von Berlin ausgehenden Massenmord. 7000 starben durch Selbsttötung. Nur 8000 Berliner Juden, die untergetaucht oder durch einen nicht-jüdischen Ehepartner geschützt waren, erlebten die Befreiung.
Im Mai 1945 gründeten einige wenige Überlebende die Jüdische Gemeinde Berlin zum zweiten Mal. Insbesondere durch den Zuzug von Juden aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion in den 90er-Jahren wuchs die Zahl der Juden in Berlin wieder an. Heute zählen etwa 12.000 Menschen dazu - es ist die größte Gemeinde innerhalb Deutschlands. Geschätzte 10.000 bis 15.000 meist säkular lebende Israelis wohnen ebenfalls in Berlin.
Und das Selbstverständnis als deutscher Jude des 21. Jahrhunderts? Die Journalistin Shelly Kupferberg, die in Israel geboren und in West-Berlin aufgewachsen ist, sieht hier bei jungen Juden eine Veränderung: »In den 80er Jahren saß man auf gepackten Koffern«, erzählt sie. Die 20-Jährigen von heute empfänden sich ihrer Einschätzung nach viel eher selbstverständlich als Teil dieser Gesellschaft. »Dass man etwa der Deutschen Fußballnationalmannschaft zujubelt, war früher - anders als heute - eher nicht denkbar.«
Nachama sagt, er habe sich schon als Heranwachsender in West-Berlin vor allem als Berliner begriffen: »Das Deutsche war für mich weit weg. Es war eher etwas, was hinter der Transitautobahn war, zwei Stunden von Berlin entfernt«, so der Rabbiner. »Ich hatte immer die Position als Berliner: So hatte ich etwa einen behelfsmäßigen Personalausweis. Das habe ich mit allen geteilt - nicht weil ich jüdisch war, sondern weil ich Berliner war.«