Porträt der Woche

»Ich lerne von den Kindern«

Bietet als Historikerin Stadtführungen durch Erfurt an: Inna Kurzbach (56) auf der Festung Petersberg Foto: Maik Ehrlich

Es tut mir weh, was da in der Ukraine passiert. Ich habe Angst um das Land, in dem ich aufgewachsen bin. Zwar lebe ich nun schon seit 18 Jahren in Deutschland, aber mein Geburtsland ist mir nahe geblieben. Es ist gespalten; das merke ich, wenn ich mit meinen Freundinnen telefoniere. Ich weiß nicht, wo die Wahrheit ist und wer recht hat. Aber ich denke, Putin ist nicht einfach nur der Böse, und der Westen macht alles richtig. Doch das Gegenteil stimmt natürlich auch nicht. Es ist so kompliziert.

Vor Kurzem habe ich gehört, dass in Israel Kibbuzim vorbereitet würden für Juden, die die Ukraine verlassen möchten, weil sie sich dort nicht mehr sicher fühlen. Vielleicht sind das nur Gerüchte. Aber ich bin so froh, dass ich nicht mehr dort lebe – das ist ein ungeheures Glück!

Anfangs wollte ich gar nicht aus der Ukraine fort, aber meine Mutter hat mich und meine Schwester mit ihren beiden Kindern bedrängt. Dabei hatte ich eine gute Arbeit im internationalen Touristikzentrum. Ich bin als Reiseleiterin durch die ganze Sowjetunion gereist und später durch andere Länder. Da ich Geschichte studiert hatte, konnte ich den Leuten so manches erzählen.

Ausreise Mama wollte weg. Im Bus oder in der Straßenbahn haben sie manchmal »Shidowka« gezischelt. Das ist dort ein Schimpfname für Jüdinnen. Und meine Schwester hatte nach dem Zerfall der Sowjetunion ihre Arbeit als Ingenieurin verloren. Da stand sie nun ohne Einkommen – und ohne Mann; der war bei einem Autounfall gestorben. Und zugleich gingen damals viele fort von Nikolajew. Das ist eine Stadt, nur 150 Kilometer von Odessa entfernt. Sie gingen nach Israel oder nach Deutschland.

Auch Mamas beste Freundin hatte sich entschieden zu gehen. Sie schrieb ganz viele Briefe von diesem neuen Land. Bloß nicht nach Israel, hat sie Mutter immer wieder ermahnt. Da sei es zu heiß. Eines Tages kam dann ein Paket von ihr, unter anderem mit drei Apfelsinen. Die haben entschieden, dass wir hergekommen sind. Das klingt verrückt, ich weiß. Zumal es in Israel genug davon gibt. Aber es war eben ein Paket aus Deutschland.

Wir erzählen uns diese Geschichte oft, wenn wir zusammensitzen und feiern und uns an unsere erste Zeit in Deutschland erinnern. Zu fünft saßen wir in dem kleinen Bus, als wir 1996 nach Deutschland fuhren: Mama, meine Schwester, ihre beiden Kinder und ich – inmitten des vielen Gepäcks mit Geschirr und Handtüchern und Klamotten. Meine Nichte Natascha war damals 20. Sie wollte auf keinen Fall mitkommen. Für sie war Israel das Gelobte Land. Anderthalb Jahre hatte sie dort bereits gelebt. Doch unsere Mutter wollte, dass die Familie zusammenbleibt. Und was sie sagte, war Gesetz. Eine typische jiddische Mamme sozusagen.

Sie schlug Natascha vor, für ein Jahr mit nach Deutschland zu kommen. Wenn es ihr dann immer noch nicht gefalle, könne sie zurückgehen oder nach Israel weiterziehen. Knurrend kam sie mit. Drei Tage brauchten wir für die Fahrt nach Thüringen. 24 Stunden haben sie uns an der ukrainischen Grenze festgehalten. Ohne Bakschisch läuft nichts. Ich schäme mich, aber es ist so. Als wir 100 Dollar gezahlt hatten, durften wir weiterfahren.

Heim Unsere erste Station in Deutschland war Aschara, ein kleiner Ort bei Mühlhausen. Eng, fremd und voller Fragezeichen. Wir wollten weg, und so wies man uns an ein anderes Heim. Dorthin sollten nur Juden kommen – weil die angeblich besonders sauber sind und dort alles verdreckt war. Wir haben viele Tage lang nur geputzt. Dann, endlich, im April 1997, kam jemand und fragte, wer Lust habe, nach Erfurt zu gehen. Erfurt? Noch nie gehört.

Sicherlich genauso klein und unscheinbar. Wieder war es Mama, die die Initiative ergriff: »Fahr hin und sieh’s dir an«, sagte sie zu mir. Das tat ich. Die Stadt gefiel mir. Aber dass wir in jenem Teil Deutschlands bleiben sollten, der einmal DDR war, störte uns. Wir dachten, die Leute da seien arm, und es gehe da bestimmt zu wie in der Ukraine. Ich wusste es nicht besser, und Vorurteile sind immer da, wo es kein Wissen gibt.

Tochter Schließlich bekamen wir zu fünft zwei Zimmer. Dieses Glück verdankten wir dem Heimleiter Siegfried Kurzbach. Er war der erste Deutsche, der so richtig freundlich und nett war. Er fragte, ob er uns helfen könne, brachte einen Vorhang an, damit wir uns wohler fühlten. Eine Kleinigkeit – aber die Geste war einfach erwärmend. Ein halbes Jahr später haben wir einander Briefe geschrieben, ich und er. Wenn ich sie heute lese – oh weh! Fehler über Fehler! Ich hatte ja gerade mal den ersten Sprachkurs hinter mir. Verliebt habe ich mich in Siegfried erst später. Inzwischen haben wir eine gemeinsame Tochter: Rebekka.

Seit sie Ende letzten Jahres ihre Batmizwa hatte, ist sie nicht mehr nur Kind. Ich weiß das zwar, aber mein Herz hat es noch nicht verstanden. Kürzlich war sie mit ihrer Klasse drei Wochen in England, da habe ich immer ihre Chamsa getragen – so war sie trotzdem bei mir. Wenn ich Wünsche frei hätte, würde ich darum bitten, dass alle, die ich liebe, gesund bleiben. Und Rebekka soll keine schlechten Noten bekommen. Denn Juden müssen die Besten sein, damit es weitergeht. Das denke ich immer noch, das habe ich aus der Ukraine mitgebracht. Dort hat es gestimmt. Und hier bekomme ich das aus meinem Kopf nicht heraus. Selbst, wenn mein Mann schimpft und ich weiß, dass es Unsinn ist. Andererseits schadet es doch aber auch nicht, wenn wir klug sind und studieren, nicht wahr?

Mein Studium wird in Deutschland nicht anerkannt. Aber es nützt manchmal meiner Arbeit mit den Kindern im Hort. Als wir uns das erste Mal trafen, habe ich ihnen gesagt, dass sie mir helfen müssen. Meine Heimatsprache sei ja nicht Deutsch, habe ich ihnen erklärt. Und sie könnten diese Sprache ja perfekt. Jedes Mal, wenn ich etwas falsch ausspreche, sollten sie mich bitte korrigieren. Sie machen das ganz freundlich. Inzwischen verstehe ich, was sie sagen – selbst, wenn am Montag fünf Kinder gleichzeitig vom Wochenende erzählen. Manchmal reden sie auch von der Kirche.

Religiös zu sein, wurde in der Sowjetunion nicht zugelassen. Es gab zwar eine Synagoge, aber das war nur ein Gebäude. Ich wollte verbergen, dass ich Jüdin bin, doch mein Familienname, Chalivman, verriet mich. Ich solle doch nach Israel gehen, haben manche gesagt. Das sei meine Heimat. Andere haben mich beschimpft, nachdem ich mich entschieden hatte, die Ukraine zu verlassen: Sich kostenlos ausbilden lassen – und dann abhauen zum Feind. Ja, wirklich, so haben manche geredet! Mit solchen Dingen kam ich hierher und sollte mich bei der jüdischen Gemeinde melden. Eine Jüdin gehört zur jüdischen Gemeinde, meinten sie. Ich habe mich nicht getraut, nicht hinzugehen. Gelernt ist gelernt.

Ich bin bis heute nicht sonderlich religiös, aber ich mache Stadtführungen durch das jüdische Erfurt. Jüdische Geschichte ist für mich als Historikerin spannend. Als man 2009 die Mikwe entdeckte und wir sie das erste Mal sahen, da überkam mich ein Gefühl von Stolz, zu diesem Volk zu gehören. Inzwischen bin ich auch bei der Tanzgruppe der Jüdischen Gemeinde. Wir haben gerade neue Kreistänze gelernt und haben auch neue Kostüme. 25 Frauen sind wir.

Ich habe hier in Erfurt alles, was ich mir wünsche: eine Familie, zu der auch Mama gehört – deshalb wohnen wir auch zusammen. Ich habe eine Arbeit, die mir Spaß macht – deshalb freue ich mich jeden Tag auf die Kinder. Und: Ich habe eine jüdische Gemeinde, die mir vertraut geworden ist, weil ich dort Freunde fand.

Aufgezeichnet von Esther Goldberg

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