Das Telefon spielt eine große Rolle in meinem Leben, denn ich bin viel auf Reisen. Ich arbeite als Familien- und Bildungsreferentin in der Synagogengemeinde Duisburg-Mülheim-Oberhausen. Da ich in Dortmund wohne, verbringe ich jeden Tag mindestens eine Stunde im Zug. Die Zeit nutze ich zum Lesen, zum Arbeiten, zum Nachdenken. Ich habe ein iPhone, um meine Mails unterwegs zu bearbeiten. Und ich twittere.
Auch abends bin ich fast immer außer Haus, weil ich in mehreren Gemeinden Seminare gebe. Donnerstags in Duisburg, dienstags in Dortmund. Außerdem habe ich noch Bochum, Neuss, Gelsenkirchen, Bielefeld. Das sind in der Regel Projekte, die Jahre dauern und regelmäßig stattfinden. Angefangen hat das 1996 in Dortmund. Mein Mann und ich, wir waren eines der ersten Paare aus der ehemaligen Sowjetunion. Und da mein Mann Physik-Professor ist und ich promovierte Historikerin, wurden wir in der Gemeinde sehr gut aufgenommen, ja geradezu gehätschelt. Es gab damals eine Vorlesungsreihe zum Thema »Die Juden in der russischen Kultur« und ich wurde eingeladen, eine dieser Vorlesungen zu halten.
Unser damaliger Rabbiner, Henry G. Brandt, hat mir dann vorgeschlagen, jeden Monat Vorlesungen über die Geschichte der Juden auf Russisch zu halten. Damals gab es keine große Auswahl an russischsprachigen Veranstaltungen. Es kamen jedes Mal bis zu 100 Leute. Rabbiner Brandt unterstützte mich sehr. Er sagte: »Du bist ein glücklicher Mensch: Du lehrst und lernst dabei selbst.« Tatsächlich saß ich damals einen Monat lang über den Vorbereitungen einer einzigen Vorlesung, denn mit der Geschichte des Judentums hatte ich mich bis dahin ja nicht beschäftigt. Während meines gesamten Geschichtsstudiums an der Moskauer Uni war das Wort »Jude« kein einziges Mal gefallen.
Zu jeder Vorlesung erstelle ich ein Begleitheft mit Landkarten, Bildern und Quellenangaben. Jetzt kommen nicht mehr 100 Leute zu meinem wöchentlichen Seminar in Dortmund, sondern nur noch 15 bis 18. Aber sie kommen jede Woche, manche schon seit 13 Jahren. Natürlich, einige sterben, ziehen um, bekommen Enkelkinder und müssen sich um sie kümmern. Aber es bleibt ein harter Kern. Sie sind inzwischen wie eine zweite Familie. Manch einer ruft aus dem Krankenhaus an: »Bitte geben Sie meine Arbeitsmaterialien Herrn oder Frau Soundso mit.« Andere erzählen mir, dass ihr verstorbener Vater ihnen die Heftsammlung vererbt hat.
vielfalt Jede Gemeinde hat andere Wünsche. Bei der einen stehen die Feste im Mittelpunkt, bei der anderen die Literatur. Ich musste mich mit dem ganzen großen Spektrum des Judentums auseinandersetzen. Ich habe natürlich viel darüber gelesen, ich kaufe ständig Bücher. Wir haben an die 4.000 zu Hause. Aber es war offensichtlich, dass ich mich weiterbilden muss. Und so habe ich vier Jahre lang an der Sommeruni in Amsterdam Geschichte des Judentums studiert. Dabei habe ich viele Leute aus den verschiedensten Ecken Europas kennengelernt. Mit manchen twittere ich bis heute.
Bei Twitter und Facebook ist mir mein 16-jähriger Sohn eine große Hilfe. Er ist mit den neuen Medien aufgewachsen. Wir hatten früher keine Kinderfrau, und ich habe ihn zu allen Veranstaltungen mitgenommen. Damit er nicht weinte, bekam er einen Gameboy. Die ersten Vorlesungen endeten immer mit Applaus für Alex, weil er zwei Stunden Mamas Vortrag ausgehalten hatte, ohne viel Krach zu machen. Heute bespreche ich alle meine Seminare mit ihm, dem Vertreter der jungen Generation: Wird das für deine Altersgenossen spannend sein, ist das okay? Schließlich will ich nichts Langweiliges erzählen.
Man liest ja oft über die Juden aus der ehemaligen Sowjetunion den Satz: »Unser Sohn ist unser Lehrer. Er bringt alle Kenntnisse aus dem Religionsunterricht mit nach Hause.« Das wollen wir in der Duisburger Gemeinde eben nicht. Wir haben hier Erwachsenenseminare für Eltern und Großeltern. Auf diese Weise erreichen wir auch die Familien, deren Kinder nicht zu uns in den Kindergarten oder in den Religionsunterricht kommen. Wir treffen uns in der Bibliothek, lesen und diskutieren Texte. Da es sich um keinen formellen Lehrgang handelt, darf man alle möglichen Fragen stellen. Es ist eine offene Diskussion. Manchmal gebe ich auch Hausaufgaben auf.
Einmal die Woche haben wir unser Pro-jekt »Bambinim« für Kinder im Krippenalter mit ihren Müttern. Es handelt sich um eine frühe Sprach-, Musik- und Bewegungsförderung. Dank dieser Gruppe konnten wir unseren neuen Kindergarten recht schnell gründen, da sich schon alle kannten. Er wurde im Sommer eröffnet: Für den Kindergarten bereite ich das pädagogische Konzept vor, wie man das Judentum den Kleinen näherbringen kann.
Außerdem arbeitet unsere Gemeinde mit der Stiftung American Jewish Joint zusammen, die die Gründung jüdischer Büchereien unterstützt. Wir führen Seminare durch für Gemeindebibliothekare aus ganz Deutschland. Da gab es die Idee, einmal im Jahr ein Fest des jüdischen Buches zu veranstalten. Unser viertes Fest findet am 14. März statt. Das Organisationskomitee hat schon getagt: Wir laden erstklassige Autoren aus Israel, Frankreich, Österreich oder den Niederlanden ein sowie Rabbiner verschiedener Strömungen. All diese Teile meines Lebens verbindet immerhin ein roter Faden: Das ist die jüdische Tradition, Kultur und die Kommunikation. Ich liebe meine Arbeit sehr, das ist mein Glück. Ich hatte keine Ahnung, als wir auswanderten, dass ich meinen Beruf werde ausüben können.
Mein Arbeitstag beginnt um 6.30 Uhr. Ich stehe auf und koche meinem Sohn einen Haferbrei. Die halbe Stunde, die wir morgens zusammen am Tisch verbringen, ist unsere Zeit. Danach frühstücke ich mit meinem Mann. Überhaupt sind die morgendlichen Stunden der Familie gewidmet. Danach sammele ich mich kurz und mache mich auf den Weg. Von den vielen Städten, die ich besuche, sehe ich leider oft wenig, weil alles so durchgeplant ist. Das Einzige, was ich überall tue, ist Buchläden aufzusuchen. Nichts mache ich lieber als darin zu stöbern. Als ich klein war, nahm mich mein Vater samstags zu einem Spaziergang mit, und wir klapperten alle Buchläden im Zentrum von Moskau ab. Seitdem liebe ich diesen Zeitvertreib.
ritual Mein Tag endet eigentlich immer gleich. Mein Sohn wartet auf mich, egal, wie spät ich nach Hause komme, und wir reden miteinander. Das ist uns zu einem Ritual geworden. Früher fragte ich ihn: Wie war dein Tag? Was gab es Neues im Kindergarten? Jetzt hat sich das ein bisschen verkehrt: Er fragt mich, wie mein Tag war. Wir reden oft mehr als eine Stunde miteinander. Und wenn er dann schlafen geht, setze ich mich an den PC, beantworte Mails und recherchiere für die nächsten Vorlesungen, so lange meine Kraft reicht. Wenn ich mit dem letzten Seminar zufrieden war und mein Mann, der oft dabei ist, es auch gut fand, habe ich das Gefühl, der Tag hat sich gelohnt.
Samstags ist alles anders. Dann sehe ich zu, dass ich nicht ans Telefon gehe. Alle wissen das. Nicht, dass wir sehr orthodox wären, aber dieser Tag wird anderen Dingen gewidmet. Früher gingen wir jeden Freitag in die Synagoge. Jetzt bleiben wir häufiger zu Hause, zünden die Kerzen an, essen zusammen. Ich mag die Freitage sehr. Sie leiten ein langes Stück Freizeit ein: ein ganzer Samstag und manchmal ein Stück vom Sonntag dazu. Wenn wir am Samstag nicht in die Synagoge und auch sonst nirgendwohin fahren, dann lege ich mich eine Weile aufs Ohr, nehme ein Buch mit ins Bett, und keiner stört mich. Was für unsere Familie sehr typisch ist: Wir lieben die Hawdala, das Ende des Schabbats, das Ritual, das den Feiertag vom Werktag trennt. Das ist eine sehr schöne Zeremonie. Und dann fängt bald die Arbeitswoche wieder an: 6.30 Uhr, Haferbrei.