In der zweiten oder dritten Reihe zu stehen, ist mir wesentlich lieber als in der ersten. Ich hatte es mir nicht vorstellen können, einmal ins Rampenlicht zu treten. Das musste ich als Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Münster erst einmal lernen. Mit der Zeit entstand zwar eine gewisse Routine, aber ich spürte immer Lampenfieber vor den Auftritten.
Niemals hätte ich daran gedacht, einmal Vorsitzender zu werden. Ich ahnte, dass dies eine erfüllende und ausfüllende, aber auch sehr fordernde Aufgabe ist. Meine Wahl vor knapp 29 Jahren war ein bewegender Moment für mich. Dass ich solch ein hohes Ehrenamt einmal gestalten dürfte, hätte ich nicht für möglich gehalten. Ich sah mich als Diener der Gemeinde. Doch bei den Wahlen im vergangenen Sommer habe ich nicht mehr kandidiert, denn nach 28 Jahren Ehrenamt wollte ich es abgeben und für einen jüngeren Kandidaten den Platz räumen.
Lehre In Augsburg bin ich groß geworden. Nach dem Abitur dachte ich mir, dass ich vor dem Studium erst einmal ein Handwerk lernen wollte. So fing ich eine Konditorlehre an. Ich hatte und habe ein Faible dafür, mit anderen Menschen zusammenzuarbeiten. Später wurde mir klar, wie prägend dieses Teamwork für meine weitere Arbeit war.
Ich mag es, meine sechs Blumenkästen zu bepflanzen.
Anschließend studierte ich Sozial- und Heilpädagogik und war in verschiedenen pädagogischen Einrichtungen tätig. Gleichzeitig zog mich Israel an. Ich hatte mich mit dem Judentum intensiv beschäftigt und fasste den Entschluss, dort hinzureisen. Das war 1981. Daraus wurden sieben Jahre, in denen ich in einem streng religiösen Kibbuz nahe der jordanischen Grenze lebte.
giur Vor dem Israelischen Oberrabbinat konvertierte ich noch einmal, denn mein Giur aus Deutschland wurde dort nicht anerkannt. Noch heute erfüllen mich die Momente mit Stolz und Freude, als ich die Bescheinigung in meinen Händen hielt und mir später die israelische Staatsbürgerschaft verliehen wurde.
Diese beiden Augenblicke gehören mit zu den größten Highlights meines bisherigen Lebens. Ich sah meine Zukunft weiterhin in Israel. Doch um noch ein paar persönliche Dinge zu erledigen, fuhr ich nach Deutschland. Wider Erwarten erhielt ich eine Stelle beim Landgericht Münster als Sozialarbeiter in der Bewährungshilfe, wurde verbeamtet und konnte noch vor meiner Rückkehr nach Israel ein wenig Geld verdienen – so jedenfalls mein Plan.
Ich fand die Jüdische Gemeinde – und irgendwie fand sie auch mich. Meine »jüdische Mutter« wurde Marga Spiegel sel. A., die Tante von Paul Spiegel sel. A., dem späteren Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschlands, mit der mich eine innige Freundschaft verband. Ich war damals sehr orthodox, gab Frauen nicht die Hand und hatte Schläfenlocken.
durchblick Als ich wegen des Vorsitzes gefragt wurde, musste ich ein paar Tage nachdenken, denn ich wollte ja nach Israel und mich nicht so lange binden. Für eine Legislaturperiode, damals noch drei Jahre, sagte ich zu. So wurde Münster unerwartet zum Mittelpunkt meines weiteren Lebens. Meine zionistische Verbundenheit, die Sehnsucht nach Israel und die Sonnenaufgänge über den Zinnen Zions aber brannten in mir weiterhin unauslöschbar. Jeden, der mir gesagt hätte, dass meine Zeit als Vorsitzender einmal 28 Jahre dauern würde, hätte ich für meschugge erklärt.
Als ich anfing, stand ich vor einem Berg von Aufgaben. Die Gemeindesekretärin war weg, und ich musste mir selbst einen Durchblick verschaffen. Jede freie Sekunde nutzte ich, um mich fachkundig zu machen. Und da war ich den vier Präsidenten des Landgerichts, die ich erlebt habe, immer dankbar, dass sie all meine Arbeit unterstützten und mir weitestgehend freie Hand ließen, denn ich war als Bewährungshelfer ja weiterhin im Einsatz. Auch an den Wochenenden habe ich gearbeitet, war telefonisch immer erreichbar und so viel wie möglich präsent.
Ich fand die Jüdische Gemeinde – und irgendwie fand sie auch mich.
Während für die Gemeinde Ende der 80er-Jahre zu befürchten stand, erneut in eine zahlenmäßige Bedeutungslosigkeit abzugleiten, etwa nach dem Motto »Der Letzte macht das Licht aus«, herrscht heute wieder reges Leben – dank der Zuwanderung von Juden aus den ehemaligen Ländern der Sowjetunion. Die Gemeinde ist um ein Zwölffaches angewachsen und hat durch diesen Zuwachs ein neues Gemeindebild mit einer völlig neuen Struktur entwickelt. Gottlob sind die Zeiten vorbei, in denen der Gottesdienst wegen fehlender Mitglieder ausfallen musste.
integration Die Herausforderung war natürlich die Integration der neuen Mitglieder. Aber sie ist uns geglückt. Wir haben Sprach- und Integrationskurse, Religionsunterricht angeboten, bei Bedarf die Mitglieder auf die Ämter begleitet und Wohnungen gesucht. Heute hat unsere Gemeinde wieder eine normale Demografie mit Kindern, Jugendlichen, Eltern und Großeltern. Knapp 500 Mitglieder zählt sie nun.
Als Vorsitzender hatte ich mich oft gefragt, ob ich das Richtige tue und die richtigen Entscheidungen treffe. Ich schätzte besonders den breit gefächerten Aufgabenkreis: Ich hatte Spaß an den zu bewältigenden Aufgaben eines Kaufmanns und zugleich daran, die Rolle eines Verwaltungs- und Büromanagers auszufüllen. Besonders viel Freude bereitete mir, dass mir auch die Rolle einer Vertrauensperson für Nöte und Sorgen unserer Mitglieder und des Personals zukam.
Aber ich musste mich auch um den jüdischen Friedhof kümmern, Dienstpläne erstellen – und mit unseren Mitgliedern schrieben wir ein Jubiläumsbuch anlässlich des 50-jährigen Bestehens der neu errichteten Synagoge in Münster nach der Schoa. Und dann musste auch der Um- und Ausbau unseres Gemeindezentrums bewältigt werden. Da war ich viel damit beschäftigt, Fördergelder zu akquirieren. Und ich wollte, dass wir ein offenes Haus auch für nichtjüdische Gäste sind.
zuwanderer Was mir wehtut, ist, dass ich es nicht geschafft habe, während dieser knapp drei Jahrzehnte eine Lösung für die Altersabsicherung der Zuwanderer auf die Beine zu stellen. Ich hätte das gern mit Unterstützung des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden von Westfalen-Lippe und des Zentralrats auf den Weg gebracht. Die Mehrzahl der Zuwanderer lebt an der Grenze zur Altersarmut, da die meisten nur eine minimale Rente erhalten. Inzwischen gibt es die Idee, dass ein Härtefonds eingerichtet werden soll. Ich hoffe, dass das bald klappt.
Was mir wehtut, ist, dass ich es nicht geschafft habe, während dieser knapp drei Jahrzehnte eine Lösung für die Altersabsicherung der Zuwanderer auf die Beine zu stellen.
Unvergessliche Erlebnisse als Gemeindechef bleiben auch aus der Zeit, als ich vor 20 Jahren die Münster-Nadel und vor einem Jahr das Bundesverdienstkreuz entgegennehmen durfte. Und nun werde ich zum »Freud- und Friedensritter« der Karnevalsgesellschaft »Schlossgeister« ernannt. Ich freue mich schon jetzt – auch auf die Laudatio von Oberbürgermeister Markus Lewe. Aber auch an die Premiere des Dokumentarfilms Jüdisch leben heute – Aus dem Gemeindeleben in Münster erinnere ich mich gern. Der Film entstand in einer zweijährigen Zusammenarbeit mit dem FilmLAB-Team der Uni Münster und unserer Gemeinde.
Da ich einen 40-Stunden-Job hatte, war freie Zeit Mangelware. Dennoch blieb ich meinem Hobby treu, dem Motorradfahren. Früher bin ich auch Rennen gefahren, trainierte dafür und habe sogar Titel geholt. Doch nun bin ich keine 30 mehr und denke, dass ich nicht mehr so ein gutes Reaktionsvermögen habe. Außerdem würde es zu lange dauern, nach einem möglichen Unfall wieder auf die Beine zu kommen. Der Rennsport fehlt mir jedoch.
Ausschlafen Jetzt kann ich erst einmal mehr und länger ausschlafen. Aber auf die faule Haut werde ich mich nicht legen, da ich in den nächsten Monaten noch den neuen Vorstand unterstützen möchte. In meiner neu gewonnenen Freizeit möchte ich vor allem mehr lesen, Sport treiben, häufiger ins Theater gehen und, dem Kompass meines Herzens folgend, öfters und länger nach Israel fliegen. Ich mag es, meine sechs Blumenkästen zu bepflanzen. Vor ein paar Jahren bin ich aus dem Zentrum Münsters ein paar Straßen weiter hinausgezogen, wo ich mehr Ruhe und einen Balkon habe.
Die Gemeinde ist mein jüdisches Zuhause. Dort habe ich wider Erwarten einen Großteil meines Lebens verbracht, und es ist der Ort, wo ich immer hingehen kann – zum Beten, um Gleichgesinnte zu treffen und zu diskutieren. Und bei Veranstaltungen freue ich mich, nicht mehr in der ersten Reihe sitzen zu müssen.
Aufgezeichnet von Christine Schmitt