Der Monat März wird für mich ein ganz besonderer werden, denn in diesen Tagen erscheint mein Buch Hedwig, Rudi, Irmgard, Heinz – eine jüdische Familiengeschichte in Briefen und Memoiren. Des Weiteren wird – wenn alles gut geht – der RIAS-Kammerchor mit zweijähriger Verspätung sefardische Volkslieder für gemischten Chor aufführen, die ich publiziert habe, und auf deren Interpretation ich mich sehr freue. Ebenso warte ich voller Spannung, ob meine eingereichte Komposition bei einem Wettbewerb Erfolg haben wird. Da werde ich im März voller Spannung meine E-Mails checken.
Der Titel meiner Komposition heißt »Sechs Lieder in den Ferien zu singen« und ist eine Anspielung auf den Chorsatz »Sechs Lieder im Freien zu singen« von Felix Mendelssohn Bartholdy, von dem ich mich musikalisch inspirieren ließ, aber den ich natürlich nicht kopiert habe.
Die Gedichte stammen von Marina Garanin, die ich als lieblich und humorvoll beschreiben würde, weshalb der Stil passt. Die Autorin ist wie ich eine Stipendiatin bei ELES. Seit fast sechs Jahren werde ich von der Organisation gefördert, und mittlerweile wirke ich zusammen mit Anna Basina als Gesamtsprecher der Studierenden.
In den ersten drei Jahren in Deutschland arbeitete ich als Kundenbetreuer und Tourguide.
Für mich ist ELES sehr wichtig, denn über dieses Netzwerk habe ich einige meiner besten Freunde gefunden, und es ist ein großer Teil meines Lebens geworden. Außerdem konnte ich dank der Förderung in den vergangenen Monaten finanziell überleben. Für Musiker ist der Lockdown hart.
Ich bezeichne mich gerne als Chorsänger der dritten Generation in meiner Familie, denn meine Großeltern haben beide gesungen und sich in einem Chor kennengelernt, meine Eltern sahen sich zum ersten Mal im Philharmonischen Chor in Tel Aviv, und meine Frau Lior Stern und ich haben uns in einem Vokalensemble gefunden, in dem ich in Israel jahrelang mitgesungen habe. Das Ensemble und die Chormusik waren mir so wichtig, dass ich auch während meiner dreijährigen Militärzeit regelmäßig zu den Proben kam. Meine Frau kenne ich seit 14 Jahren, seit elf Jahren sind wir zusammen, also ein Drittel meines Lebens.
IDENTITÄT 2013 entschieden wir uns, gemeinsam nach Berlin zu ziehen. Das lag auch ein bisschen an meiner Familiengeschichte, da mein Opa einst in Berlin lebte. Hier ist die Musikszene wesentlich größer als in Israel, was für uns beide eine Bereicherung ist. Nach einem Jahr in Berlin gründete ich den Hebräischen Chor Berlin, den ich ein paar Jahre dirigierte. Ich fing an, mich auf die Aufnahmeprüfung fürs Chordirigieren vorzubereiten. Also vertiefte ich mich ins Klavierspielen, studierte die Partituren sorgfältig, feilte am Handwerk des Dirigats, wie ich mit Mimik und Gestik meine musikalischen Ideen vermitteln kann.
Chorgesang ist meine Identität. Die bestandene Aufnahmeprüfung war der Wendepunkt in meinem Leben. Ich konnte so bei Jörg-Peter Weigle und Justin Doyle studieren. Mittlerweile bin ich im Masterstudiengang für »Historischen und Zeitgenössischen Tonsatz« bei Jörg Mainka und Maria Baptist und werde voraussichtlich in einem Jahr fertig.
Das Notenbuch mit den acht sefardischen Volksliedern war meine erste Publikation, jetzt kommt mein Hebräisches Chorbuch: Zwanzig Sätze für gemischten Chor bei Breitkopf und Härtel heraus. Dafür habe ich Stücke aus bekanntem hebräischem Liedgut bearbeitet. Diese Musik gehört zur Landschaft meiner Kindheit. Klarinette und Blockflöte lernte ich als Kind in Tel Aviv.
ALLTAG Als Musiker habe ich immer viel zu tun. Und das Stipendium gibt mir Freiheiten, meinen Interessen nachzugehen. Nichtsdestotrotz habe ich mir vorgenommen, jetzt früher aufzustehen, mein Handy klingelt nun um 7 Uhr. Als einen Chaoten würde ich mich auf jeden Fall beschreiben. Mein Tag ist mit Komponieren, Organisieren, Dirigieren und Produzieren ausgefüllt. Diese unterschiedlichen Aufgaben machen es mir nicht immer leicht, strukturiert mit meiner Arbeit vorzugehen. Manchmal nehme ich mir auch die Zeit und überarbeite noch einmal meine alten Kompositionen.
Ich habe hundert Ideen und bin froh, wenn ich zwei verwirklichen kann. Mein Ziel ist es, davon leben zu können.
2017 fand ich auf auf einem Dachboden im Kibbuz Afikim im Jordantal Briefe meiner Familie.
Für einen Studenten bin ich mit 32 Jahren eigentlich schon zu alt. Gerade in der Musik gibt es bei Wettbewerben und Aufnahmeprüfungen Altersbegrenzungen. Es war schon sehr ungewöhnlich, dass ich erst mit 25 Jahren mein Bachelorstudium angefangen habe.
In meinen ersten drei Jahren in Deutschland arbeitete ich als Kundenbetreuer, Tourguide und setzte Noten für den Druck – das mache ich immer noch und ich kann sagen, dass es eine schwierige und anstrengende Arbeit ist, bis die Partitur fehlerfrei, ordentlich und klar aussieht.
ZUSAMMENARBEIT Meine Frau ist Sopranistin und studiert oft Chorpartien für Opern ein. Mittlerweile kann ich die Sopranstimmen fast auswendig, denn wir haben eine kleine, bezahlbare Wohnung, in der ich sie oft üben höre.
Ein wichtiges Projekt in meinem Kalender ist die Zusammenarbeit unseres Studiengangs an der Hochschule für Musik (HfM) mit der Sächsischen Bläserphilharmonie. Da dürfen wir Studierende eigene Kompositionen für Blasorchester schreiben und mit dem Orchester in Bad Lausick proben, ein Konzert ist für den 23. Juni in der HfM Berlin geplant.
Für mich ist das der perfekte Anlass, ein Werk aufzuführen, das mir besonders am Herzen liegt: die Suite »A Place Beyond Words«, die ich nach jüdischen Weisen in Zusammenarbeit mit meinem Freund Dave Schlossberg aus New Jersey verfasst habe. Das Stück basiert auf seinen Improvisationen am Klavier, die er als gleichnamige CD veröffentlicht hat.
Musik zu zweit zu komponieren ist in unserem Beruf höchst ungewöhnlich, mit den richtigen Partnern macht das jedoch Spaß. Ohne moderne Technik wäre das undenkbar gewesen, denn Dave und ich wohnen auf verschiedenen Kontinenten, aber das Wunder des Internets hat diese Zusammenarbeit ermöglicht.
Ein weiteres Projekt, in dem ich involviert bin, ist eine Tonaufnahme hebräischsprachiger Werke für Vokalensemble. Durch den Impuls des in Amerika lebenden israelischen Komponisten Avner Finberg ist diese Zusammenarbeit entstanden, nun sollen 16 Berliner Sängerinnen und Sänger Chorwerke von Avner und von mir unter der Leitung von Avishay Shalom im März proben und aufnehmen. Die organisatorische Fähigkeit, die mir im Privatleben immer noch etwas fehlt, habe ich im Beruflichen immer gerne aufgebracht.
REIBUNG In meiner Arbeit bin ich etwas perfektionistisch: Das kann manchmal für unnötige Reibung mit den Mitmenschen sorgen, wenn man noch jung und unerfahren ist, aber mit der Zeit lerne ich immer mehr, diese Eigenschaft in einer konstruktiven Art und Weise einzusetzen, um möglichst angenehme und fruchtbare Projekte für meine Kollegen und mich zu organisieren.
Nur ein Bruchteil der heute wirkenden Künstler wird nach dem alten Muster leben können.
Die Tätigkeit des Musikveranstalters beinhaltet für mich eine wichtige Botschaft, fast so wichtig wie das Komponieren selbst, denn Musik erfüllt ihren Zweck erst dann, wenn sie gehört wird. Die Ära der Spezialisierung ist vergangen: Künstler heute können es sich nicht mehr leisten, sich nur auf das kreative Schaffen zu konzentrieren und den Rest anderen Menschen zu überlassen. Das ist ein Relikt aus der Zeit der Festanstellungen, die für meine Generation vorbei ist.
Nur ein Bruchteil der heute wirkenden Künstler wird nach dem alten Muster leben können, alle anderen werden immer mehr selbstständig und müssen alle Aspekte des Schaffens selbst bewältigen. Daher versuche ich mehrere Rollen parallel zu übernehmen, in der Hoffnung, allen gerecht zu werden. Das macht das Leben nicht einfacher, stammt jedoch aus meiner Überzeugung, dass die Kunst kein intellektuelles Hobby für eine privilegierte Minderheit sein darf, sondern der Gesellschaft einen wahren Dienst leisten soll.
OPA Seit 2017 arbeitete ich an der Publikation meiner Familiengeschichte. Mein Opa Rudi starb 2011 im Alter von 102 Jahren in Israel. In Deutschland ist er groß geworden, studierte in Berlin an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums, schloss sich der Hechaluz-Bewegung an und ging 1934 ins damalige Palästina in einen Kibbuz. Mit seiner Mutter Hedwig, die damals in Stettin lebte, schrieb er sich Briefe – diese habe ich 2017 auf einem Dachboden im Kibbuz Afikim im Jordantal gefunden.
Da ich der Einzige in meiner Familie bin, der Deutsch spricht, habe ich sie abgeschrieben und mit privaten und historischen Bemerkungen ergänzt. Es sind ganz berührende Geschichten, die nun im Verlag Hentrich & Hentrich erscheinen. Mein Opa und seine Ehefrau Irmgard berichten aus ihrer neuen Heimat im Kibbuz Afikim an ihre Eltern in Stettin und in Osnabrück, während seine Mutter Hedwig ihre Lebensgeschichte für ihren Sohn aufschreibt.
Derzeit zieht uns nichts weg aus Berlin, denn hier sind unsere Freunde, viele Möglichkeiten für uns als Musiker. Die Stadt ist unser Zentrum – allerdings würde ich mir wünschen, so viele Aufträge und Engagements zu bekommen, dass ich nach meiner Studienzeit ohne finanzielle Sorgen leben kann.
Aufgezeichnet von Christine Schmitt