Porträt der Woche

»Ich habe einen Traum«

Georgij Gonsales ist Lokführer und betet in der Gemeinde in Jena vor

von Tobias Kühn  30.05.2021 08:05 Uhr

Georgij Gonsales mit seinem Zug auf dem Jenaer Saalbahnhof Foto: Christian Lemke

Georgij Gonsales ist Lokführer und betet in der Gemeinde in Jena vor

von Tobias Kühn  30.05.2021 08:05 Uhr

Ich lebe meinen Traum: Ich bin Lokführer. Vor ein paar Jahren habe ich eine Ausbildung bei der Erfurter Bahn gemacht und bin dann dort geblieben. Seit 2018 fahre ich jeden Tag durch Thüringen, vor allem von Jena nach Pößneck, aber manchmal auch von Gera nach Leipzig oder nach Hof. Das macht mir großen Spaß!

Ich liebe die Landschaft, die Berge und Täler, das sind zum Teil sehr schöne Strecken. Ich mag es, durch den Wald zu fahren, bin aber auch jedes Mal aufs Neue fasziniert von Leipzig. Wenn ich so ganz langsam in den Hauptbahnhof einfahre, dann staune ich immer wieder, zu welchen Leistungen die Menschen fähig sind.

Freiheit Lokführer zu sein, gibt mir ein Gefühl von Freiheit: Man sitzt vorn und sieht alles. Das hat mich schon als Kind begeistert. Ich bin in den 90er-Jahren in Kiew aufgewachsen. Mit meinem Bruder nahm ich immer den Trolleybus zur Schule. Wir standen vorne beim Busfahrer und schauten auf die Straße. Jahrelang wollte ich Busfahrer werden – doch irgendwann wurde dann Lokführer daraus.

Manchmal denke ich darüber nach, noch einmal auszuwandern.

Geboren wurde ich in Chisinau, der Hauptstadt von Moldawien. Als vor 35 Jahren, im April 1986, der Reaktor im Kernkraftwerk von Tschernobyl explodierte, war meine Mutter im siebten Monat schwanger. Meine Eltern lebten schon damals in Kiew, das liegt nur 100 Kilometer entfernt. Als sie von dem Unglück hörten, bekniete mein Vater meine Mutter, sie solle doch, um mich nicht zu gefährden, für einige Monate zu ihrer Tante nach Chisinau reisen. Sie tat es, wenn auch ein wenig widerwillig, und so wurde ich in Moldawien geboren. Ein Jahr blieb sie dann mit mir dort, bevor sie nach Kiew zurückkehrte.

Meine Mutter stammt aus Tschernobyl. Sie ist in der Stadt geboren und zur Schule gegangen. Manchmal hat sie davon erzählt, wie schön die Natur dort gewesen ist und dass es am Fluss wunderschöne Sandstrände gab. Doch weil alles verstrahlt war, konnte sie mir und meinem Bruder das Haus, in dem sie ihre Kindheit verbracht hat, nie zeigen. Ich glaube, darüber war sie manchmal traurig.

KREBS Vor acht Jahren ist meine Mutter gestorben. Brustkrebs. Sie war erst 53. Zehn Jahre hat sie gegen die Krankheit gekämpft. Ich denke, vielleicht hat es in ihrer Jugend in Tschernobyl einige kleinere Unfälle im Kernkraftwerk gegeben, sodass sie in so relativ jungen Jahren Krebs bekam.
Er wurde bei ihr diagnostiziert, als wir gerade in Deutschland angekommen waren.

Die Initiative, die Ukraine zu verlassen, war von ihr ausgegangen. Sie sah in Deutschland bessere Chancen für uns Kinder. Sie hat alles allein durchgezogen, sich jahrelang ins Zeug gelegt, die Dokumente zusammengetragen und unsere Auswanderung vorangetrieben – doch kaum angekommen, wurde sie krank. Sie wollte so gern in Deutschland arbeiten, sie konnte die Sprache schon recht gut, lernte in Jena schnell viele Leute kennen, sie war eine kontaktfreudige Person. Und gerade war sie dabei, ihren Berufsabschluss anerkennen zu lassen – da bekam sie die Diagnose.

In Kiew hat sie als Krankenschwester in einer Augenklinik gearbeitet, mein Vater hatte an der Uni eine Stelle als Elektrotechnik-Ingenieur. Eine Bekannte hatte ihnen empfohlen, sich in Jena niederzulassen, es gebe da eine Uni, renommierte Kliniken und gute Arbeitsmöglichkeiten für Ingenieure. Also gaben meine Eltern Jena als Wunschort an. Sie nahmen in Kauf, fünf Jahre zu warten, denn es war damals offenbar nicht leicht, nach Thüringen zu kommen.

Ich kann mich noch genau erinnern, es war Ende Dezember 2004. Wir kamen mit einem Kleinbus direkt aus Kiew. Der ukrainische Fahrer hatte sich verfahren und kurvte durch den Thüringer Wald: Berge und Täler und Bäume, überall Bäume. Oh weh, wo sind wir nur gelandet?

Uns wurde mulmig, wir kamen aus einer Millionenstadt – und jetzt das! Wie sollten wir hier heimisch werden? Aber dann merkte der Fahrer, dass er sich vertan hatte, er kehrte um, und bald hatte er Jena gefunden. Wir waren beruhigt, dass es Häuser gibt, große moderne Häuser. Aber – wo waren die Menschen? Alle Straßen leer, niemand zu sehen. Es war erschreckend. So hatten wir uns Jena nicht vorgestellt. Als wir dann aber erfuhren, dass gerade Weihnachten war und sich das Leben an diesen Tagen vor allem in den Familien abspielt, waren wir beruhigt.

Ich war damals 17 und hatte das Abitur in der Tasche. Das thüringische Kultusministerium erkannte mein Zeugnis aber nur als Realschulabschluss an. Ich bin in Kiew aufs jüdische Gymnasium gegangen. Das war eine Ganztagsschule, wir haben extrem viel gelernt, auch über Religion und natürlich Hebräisch.

ISRAEL Als ich zwölf war, wurde ich mit meinem Bruder – er war damals zehn – für ein Jahr nach Israel geschickt, nach Kfar Chabad, ein Dorf in der Nähe von Tel Aviv. Es war ein Programm speziell für »Tschernobyl-Kinder« und ganz bestimmt auch nett gemeint. Ich habe aber nur wenige gute Erinnerungen daran, ich hatte fürchterliches Heimweh. Ein ganzes Jahr weg von zu Hause, ich wollte zurück zu den Eltern. Wir haben Briefe geschrieben, es gab ja noch kein WhatsApp. Ich weiß nicht mehr, ob wir selbst dorthin wollten, ich denke, es war wohl gegen unseren Wunsch, die Eltern wollten es. Nur gut, dass mein Bruder mit war, so konnten wir uns gegenseitig unterstützen.

Ich glaube, das Programm war darauf ausgelegt, dass die Eltern möglicherweise nachkommen und die Familien Alija machen. Am Anfang waren wir begeistert, alles war neu, ein anderes Land, ich war sehr neugierig. Aber es waren da viele andere Kinder aus der ehemaligen Sowjetunion, und manche waren regelrecht bösartig und haben uns geschlagen. Ich wollte bald nur noch nach Hause.

Mein Bruder und ich gehören zu den wenigen in unserer Gemeinde, die Hebräisch sprechen.

Zumindest haben wir dort sehr intensiv Hebräisch gelernt. So konnte ich mich am Ende des Jahres gut mit den Einheimischen unterhalten.
Mein Bruder und ich gehören zu den wenigen in unserer Gemeinde, die Hebräisch sprechen. Und weil wir durch die Zeit am jüdischen Gymnasium die Gebete kennen und auch ein bisschen singen können, kam es, dass wir seit ein paar Jahren vorbeten – da muss der Rabbiner nicht extra aus Erfurt kommen.

CORONA Wir Brüder wechseln uns ab. Manchmal leite ich auch das Gebet in Nordhausen, es gibt da eine Filiale der Landesgemeinde Thüringen.
Auch unsere Gemeinde ist eine Außenstelle der Landesgemeinde. Eine richtige Synagoge haben wir in Jena nicht, nur einen Betraum in einem Plattenbau aus DDR-Zeiten. Da, wo wir heute beten, hat man früher Pakete und Päckchen aufgegeben, es war eine Postfiliale.

Am Anfang hat uns die Gemeinde angeboten, einen Kurs der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland in Bad Sobernheim zu besuchen. Das haben wir mehrere Male gemacht und sehr viel gelernt, es kamen extra Vorbeter aus Israel.

Ich bete sehr gern vor, wir bewahren die Tradition, die Leute mögen das. Es ist ein schönes Gefühl für mich, dass ich der Gemeinde etwas geben kann. Corona hat es uns aber sehr schwer gemacht. Monatelang konnten wir uns nicht zum Gebet versammeln, ich bin regelrecht aus der Übung gekommen.

TISCHTENNIS Vor der Corona-Pandemie habe ich manchmal am Schabbat direkt nach dem Gebet Kinder und Jugendliche im Tischtennis trainiert. Das macht mir großen Spaß, und es war ganz praktisch. Denn die Turnhalle, in der wir uns getroffen haben, liegt ganz in der Nähe unseres Betraums, ein kurzer Weg. Selbst spiele ich auch Tischtennis, habe thüringenweit an Wettkämpfen teilgenommen und auch manches Punktspiel gewonnen. Weil mir Tischtennis so gut gefällt, habe ich dann einen Trainerschein gemacht. Hoffentlich ist Corona bald vorbei, dann können wir wieder trainieren und spielen.

Inzwischen lebe ich schon 17 Jahre in Deutschland – genauso lange wie zuvor in Kiew. Die Entscheidung meiner Eltern, wegzugehen, war richtig, wir haben Chancen für die Zukunft bekommen. Und eigentlich fühle ich mich hier auch wohl. Landschaftlich ist es wunderschön – aber irgendwie werde ich mit den Menschen nicht so richtig warm. Manchmal denke ich darüber nach, ob ich nicht doch noch einmal auswandern sollte, nach Israel vielleicht oder nach Kanada? Doch ob ich dort als Lokführer arbeiten kann?

Ich habe einen Traum – und vielleicht hält er mich in Jena. Ich träume davon, dass die Erfurter Bahn eines Tages die Strecke nach Nordhausen bedient. Dann könnte ich mit meinem eigenen Zug nach Nordhausen fahren, ihn abstellen, in der Gemeinde vorbeten und nach zwei Stunden wieder zurückfahren. Das wäre mein größter Traum.

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