Die Fraunhofer-Gesellschaft, für die ich arbeite, hat sich zur Aufgabe gesetzt, Erkenntnisse aus der Grundlagenforschung in anwendbare Technologien zu überführen. Zellen, davon bin ich überzeugt, werden eine enorm wichtige Säule einer künftigen, nachhaltigen Wirtschaft sein. Schon heute werden Bakterien, die auch nichts anderes als Zellen sind, in vielen industrielle Prozessen eingesetzt. Ein bekanntes Beispiel ist, dass sie in Klärwerken bei der Säuberung von Wasser helfen. Aber sie stellen heutzutage auch in Bioreaktoren Insulin für Diabetiker her. Und solche Technologien lassen sich auf immer weitere Felder ausweiten, besonders, wenn man nicht nur Bakterien, sondern auch tierische Zellen verwenden könnte.
Genau dieser Aufgabe widmet sich meine Forschung. Tierische Zellen sind sehr viel schwieriger in ihrer Handhabung. Ein ganz grundlegendes Problem ist nach wie vor, ausreichend viele Zellen in kurzer Zeit und zu vernünftigen Kosten herzustellen. Sobald dies möglich ist, wird eine ganze Flut zellbasierter Technologien ihren Weg zum Markt finden. Das wird zum Beispiel eine nochmal beschleunigte Möglichkeit sein, Impfstoffe herzustellen. Auch Zelltherapien, etwa gegen Krebs, werden darunter sein. Es ist sogar möglich, dass wir Fleisch künftig aus Zellen herstellen, die aus dem Bioreaktor kommen. Das ist ein ungeheuer spannendes und zukunftsträchtiges Feld.
FORSCHUNG Angewandte Forschung bringt es leider auch mit sich, dass man ständig Geld für seine Forschung einwerben muss. Dieser Teil der Arbeit ist für mich als Wissenschaftler frustrierend. Man möchte einfach forschen und nicht ständig in langen Anträgen beteuern müssen, dass die eigene Forschung tatsächlich sinnvoll sei.
Nicht nur ist längst wissenschaftlich erwiesen, dass dieses System der Geldvergabe keine Verbesserung der Wissenschaft bringt, sie ist auch enorm zeit- und ressourcenfressend und demotivierend für die Wissenschaftler. Es torpediert auch die Freiheit der Forschung massiv, die eigentlich von der Verfassung garantiert wird. Und in welchem Beruf gibt es das, dass man als Spezialist für etwas angestellt wird und dann aber, um dieser Tätigkeit überhaupt nachgehen zu können, obendrein noch Geld für die Verrichtung besorgen muss? Da ist doch klar, dass man eben Geld-Aqkuisiteur wird, anstatt dieser Spezialist zu sein.
Die Pandemie hat meinen Arbeitsalltag als Wissenschaftler nicht besonders verändert. Ich forsche weiter an Technologien zur Vermehrung von Zellen. Neu ist jetzt, dass nur eine Person in einem Raum arbeiten darf, aber wenn man sich abspricht, ist das gut machbar. Ich komme zur Arbeit und bin dann meistens allein, kann ins Labor gehen und eigentlich alles machen wie immer, außer dass ich ab und zu eine Maske tragen muss und wir unsere Treffen online abhalten. Ein Gutes hat die Pandemie: Ich komme so viel zum Schreiben wie sonst nie. Schreiben ist für mich die einzige Art, Gedanken wirklich zu ordnen und tiefer in eine Sache einzudringen. Das mehr tun zu können, ist das einzig Gute an Corona.
Meine Eltern und meine Großeltern sind alle Wissenschaftler; im Grunde habe ich enorm viel von dem, was man dazu braucht, schon als Kind mit auf den Weg bekommen. Ich habe Chemie studiert und in Physik promoviert. Letztlich bin ich doch in den lebenswissenschaftlichen Bereich gegangen, in dem auch meine Eltern arbeiten. Er bietet sehr viel mehr Möglichkeiten, auch dafür, meine physikalisch-chemischen Kenntnisse anzuwenden. Zwischendurch habe ich allerdings auch etwas ganz anderes ausprobiert und als Toningenieur gearbeitet.
WISSENSCHAFT Als Jugendlicher hatte ich mit dem Gedanken gespielt, Komponist zu werden. Aber schon damals hatte die Wissenschaft die Oberhand. Außerdem war mir klar, dass die Menschen eh nur in Konzerte gehen, weil sie immerfort Mozart hören wollen und keine zeitgenössischen Komponisten. Deshalb war es auch nicht so, dass ich einen Lebenstraum aufgegeben hätte. Ich dachte mir eher, wen Gott liebt, dem gibt er ein Talent, und wen er strafen will, dem gibt er zwei. Also habe ich die Strafe angenommen, das heißt, das eine gemacht und das andere nicht gelassen.
Während der Promotion merkte ich, dass Wissenschaft auch ein ziemlich zäher Schinken sein kann, und versuchte es danach nochmal professionell mit Musik. Ich bekam eine Stelle in einem Tonstudio und habe dann drei Jahre lang Musik- und Sprachaufnahmen gemacht. Auf Dauer hat mich das intellektuell aber unterfordert, und bei meinen Eltern, die beide Biochemiker sind, hielt sich das Entzücken auch in Grenzen.
Eigentlich war das ganz lustig: Anfangs war mein Vater entsetzt, weil er befürchtete, dass meine Wissenschaftskarriere vorbei wäre. Nach den drei Jahren aber fand er Gefallen an der Musik und meiner Tätigkeit. Bei meiner Mutter war es genau umgekehrt: Erst war sie sehr verständnisvoll, zum Ende hin fand sie, dass es nun aber genug mit der Ausprobiererei sei. Letztlich versuchten meine Eltern nie, mich einzuengen, sondern sie sind einfach gute Diskussionspartner in solchen Dingen.
Ich habe immer gern geschrieben und Musik nebenbei gemacht, während die Wissenschaft das Hauptbetätigungsfeld war.
Ich hatte immer beide Seiten in mir, ich habe immer gern geschrieben und Musik nebenbei gemacht, während die Wissenschaft das Hauptbetätigungsfeld war. Bei meinen beiden Geschwistern, die ich übrigens sehr liebe, sind die Neigungen eindeutiger. Mein Bruder ist Ingenieur und entwickelt Geräte, die man für Augenoperationen benötigt. Meine Schwester hat in Dresden Kunstrestaurierung studiert und lebt jetzt in Basel und betreut am dortigen Kunstmuseum die Bilder der Moderne.
FAMILIE Wir waren als Kinder fast jedes Wochenende bei den Großeltern. Entweder bei den Rapoports oder bei meiner Oma Hirsch. Ich habe von allen Seiten eigentlich nur Wissenschaftlervorfahren. Auch der jüdische Vater meiner Mutter, Hans Hirsch, war Arzt und Forscher und publizierte zudem. Er hat den Holocaust in Berlin überlebt, sich aber 1961 wegen dem, was heute wohl Posttraumatische Belastungsstörung heißt, aber damals noch keine Diagnose hatte, das Leben genommen.
Von den Rapoports habe ich sehr viel mitbekommen, sie haben ja zum Glück sehr lange gelebt, sodass ich sie auch als Erwachsener kannte. Sie lebten bei uns um die Ecke in Berlin. Wenn man so eine Familiengeschichte hat wie unsere, die ja für jüdische Familien gar nicht unüblich ist, kommt sie nicht immer so zur Sprache.
Man bekommt das als Kind zwar implizit mit, und mit dem Erwachsenwerden kommen auch immer mehr Details dazu. Aber es ist kein explizites Gesprächsthema. Bei uns gab es auch keine dedizierte Fragestunde, aber meine Großeltern waren ja auch öffentliche Personen und als solche glücklicherweise sehr auskunftsfreudig. Meine Oma Ingeborg hat ein Buch geschrieben, mein Opa Samuel Mitja Interviews gegeben und Aufsätze verfasst. Dadurch teilten sich uns die Puzzleteile der Familiengeschichte peu à peu mit.
DDR Meine Rapoport-Großeltern waren säkulare Juden; das Jüdischsein spielte bei ihnen eine untergeordnete Rolle. Es war weniger Selbstverständnis als Herkunftsgeschichte und äußere Zuschreibung. Sie begriffen sich selbst als Kommunisten, Wissenschaftler und Humanisten. Das spiegelt sich auch darin wider, dass sie sich nicht auf einem jüdischen Friedhof begraben ließen, obwohl das kurz debattiert wurde. Trotzdem wussten wir natürlich alle, dass wir jüdisch sind. Schon, dass unsere Familie in der ganzen Welt verstreut war, war ja in der DDR nicht normal.
Ich hatte Verwandte in den USA, der Schweiz und Israel, die uns auch manchmal besucht haben.
Ich hatte Verwandte in den USA, der Schweiz und Israel, die uns auch manchmal besucht haben. Aber im Alltag war es sonst nicht präsent. In meiner Umgebung in Pankow gab es damals viele Kinder von Künstlern oder Politikern, da war ich mit meinen bekannten Großeltern keineswegs ein bunter Vogel unter vielen grauen. Wir waren eher alle bunt, und es herrschte ein wildes Geschnatter.
Wenn, dann habe ich höchstens mit meiner Mutter übers Jüdischsein geredet. Deren Mutter war religiös und nahm uns manchmal in die Synagoge Rykestraße mit. Ich fand das als Kind eher befremdlich und begann erst später, mich dafür zu interessieren. Ums Judentum gab es in der DDR eine Art großer Ruhe. So habe ich es zumindest in Erinnerung. Alles Religiöse wurde dem privaten Empfinden überlassen und war auch in der Schule kein Thema. Man kann sich natürlich darüber streiten, aber meine Großeltern – und ich auch – fanden es eher angenehm, dass man mit seinem Selbstverständnis in Ruhe gelassen wurde, solange man sich ideologisch nicht mit dem Staat angelegt hat.
WENDEZEIT Mit 16 wechselte ich an eine Spezialschule für Naturwissenschaften in Merseburg. Das Leben dort im Wohnheim war viel aufregender und intensiver als zu Hause. Es war, kann man sagen, wie zwei Jahre Ferienlager, nur eben, dass ich eine Menge gelernt habe. Mit meinem Abschluss dort endete auch die DDR.
Ich habe deren Ende nicht als so tragisch empfunden wie meine Eltern und vor allem Großeltern. Aber ich kann deren Kränkung sehr gut nachempfinden. Nicht nur starb für sie der Traum einer besseren Gesellschaft, sondern es geschahen ja während der Wende auch Ungerechtigkeiten.
Meine jüdische Identität wurde zum ersten Mal relevant.
Zum Beispiel verlor mein Vater seine Professorenstelle, weil er neben seiner wissenschaftlichen Arbeit Parteisekretär war. Daraufhin bekam er verschiedene Angebote und hat sich für die aus seiner Sicht attraktivste in Harvard entschieden. Das hat mir natürlich die moralischen Ansprüche des Westens sehr fragwürdig gemacht: Sie wollten allen Ernstes die Ungerechtigkeiten in der DDR dadurch »wiedergutmachen«, dass sie genau dieselbe Sorte Karrierevernichtung betrieben und Leute ins Ausland trieben.
Trotzdem empfand ich diese Zeit eher als aufregend und spannend; als ob eine große Tür sich öffnete und vieles Neue möglich wurde. Meine jüdische Identität wurde zum ersten Mal relevant. Inklusive der Frage nach der Position zu Israel, die ich mir vorher nie gestellt hatte. Jetzt wurde ich in Diskussionen verwickelt und lernte in den USA zum ersten Mal Zionisten kennen. Plötzlich war alles vielschichtiger und uneindeutiger als vorher. Ich hatte aber auch Freude an diesen Diskussionen und streite mich bis heute gerne, vorausgesetzt es wird nicht zu irrational und blöd.
»CHARITÉ« Meine Frau, die auch Ärztin ist, und ich haben inzwischen zwei Töchter im Teenageralter. Ich möchte schon, dass sie begreifen, wo sie herkommen. Beide tragen hebräische Namen. Wie meine Eltern es bei mir gemacht haben, möchte ich ihnen gerne etwas mitgeben, das eigentlich ein bisschen ambivalent ist. Denn gerade linke Juden pflegen ja häufig universalistische Grundsätze. Das meint zunächst die fundamentale Überzeugung, dass alle Menschen prinzipiell gleich sind und die gleichen Chancen haben sollten. Das geht natürlich mit der Besonderheit, die viele Juden fühlen und für sich in Anspruch nehmen, nicht zusammen.
Die ARD-Serie Charité über ihre Oma haben wir bisher nicht zusammen gesehen.
Aber der Widerspruch ist nur scheinbar: Die Besonderheit ist eben nicht anders, als jede Herkunftsgeschichte besonders ist. Diese ist nur eben unsere. Und das ist die Widersprüchlichkeit, die ich auch gegenüber meinen Kindern vertrete: Ja, ihr seid Jüdinnen, aber es ist nur für euch wichtig und sonst eigentlich auch total egal.
Meine Töchter haben nicht so ein Interesse an der Wissenschaft wie ich in ihrem Alter. Die 18-Jährige will gern Schauspielerin werden, ihre 15-jährige Schwester ist auch eher künstlerisch interessiert und bastelt gerne. Aber sie überlegt auch, vielleicht Virologin zu werden. Die ARD-Serie Charité über ihre Oma haben wir bisher nicht zusammen gesehen. Sicher entsteht das Interesse daran, wo sie herkommen, später. Ich glaube, das kommt erst, wenn die Frage entsteht, warum man so ist, wie man ist. Und als Kind nimmt man sich noch als selbstverständlich. Ich habe dieses Interesse auch erst als Erwachsener entwickelt – und mich letztes Jahr auf die Spuren der Familie meiner Mutter begeben.
Aufgezeichnet von Moritz Piehler