Herr Neumann, der Titel einer Untersuchung zur documenta von RIAS Hessen lautet »Dunkelrote Linien wurden in Kassel überschritten«. Wie groß ist der Schaden?
Ich glaube, der Schaden ist erheblich. Und der Vertrauensverlust ist massiv. Vor allem für die jüdische Gemeinschaft. Aber auch für den Kunst- und Kulturbetrieb und die Gesellschaft als solche, da sich lange niemand in der Lage sah, das Problem antisemitischer Bilder und Filme ordentlich zu handhaben und damit klare Grenzen zu ziehen.
Sie monieren, alle, die beschwichtigt hätten, bestünden nun auf einer kompromisslosen Aufklärung. An wen denken Sie?
Speziell natürlich an Kulturstaatsministerin Claudia Roth und die hessische Ministerin für Wissenschaft und Kunst, Angela Dorn, weil sie in politischer Hinsicht die Hauptverantwortlichen waren. Sie haben viele Warnungen aus der jüdischen Gemeinschaft ungehört verklingen lassen, bevor sie dann schließlich gehandelt haben, weil der öffentliche Druck zu groß wurde. Sie wurden allerdings erst aktiv, nachdem sie begriffen hatten, dass tatsächlich antisemitische Machwerke ausgestellt wurden und dringender Handlungsbedarf bestand, weil ihnen sonst alles um die Ohren geflogen wäre. Dass es noch ignoranter ging, bewies allerdings der Kasseler OB Christian Geselle.
Die documenta unterstütze in keiner Weise Antisemitismus, hieß es damals von den Verantwortlichen. Zugleich vertrete die Ausstellung die Kunstfreiheit, die dann auch dauernd in Rechtfertigungsversuchen auftauchte. Wurde Kunstfreiheit also eine Art Freifahrtschein für die Verbreitung von Judenhass?
Zunächst einmal schätze ich sowohl Meinungsfreiheit als auch die Kunstfreiheit und ich glaube, dass es auch weiterhin gesellschaftliche Diskussionen darum geben muss, was Kunst darf und was nicht. Ich glaube, dass es kein guter Weg ist, die Kunstfreiheit dadurch zu torpedieren, wenn man ihr vorschnell die Verbreitung von Hass unterstellt. Gleichzeitig darf die Kunstfreiheit aber auch nicht als Deckmantel genutzt werden, um Hass zu verbreiten. Die Grenzlinie muss diskutiert und ausgehandelt werden.
Sie haben eine Gleichgültigkeit des »gemeinen Bürgers« beklagt. Der zur Schau gestellte Judenhass wurde in Kassel mit leckeren Drinks heruntergespült und zumeist ignoriert. Welche Schlussfolgerung müssen wir hier ziehen?
Ich fürchte, dass die Gesellschaft beim Thema Judenhass ziemlich desensibilisiert ist. Man nimmt es vielfach nicht wirklich ernst. Manchmal habe ich das Gefühl, man glaubt, dass, wenn keine Fackelträger mit Hakenkreuzfahnen durch die Straßen laufen, alles nicht so wild wäre und kein Handlungsbedarf bestünde. Die Juden würden halt mal wieder übertreiben und wären zu sensibel. Was die Gesellschaft nicht begreift, ist, dass durch ebensolche Vorfälle wie auf der documenta ein Klima und eine Atmosphäre geschaffen werden, die von Antisemiten als Freifahrtschein verstanden werden. Wenn die Gesellschaft so etwas unwidersprochen und gleichgültig durchgehen lässt, dann verschieben sich die Grenzen des Zulässigen Stück für Stück zu ihren Lasten.
Welcher Weg führt hier in die richtige Richtung? Wie sollte die Zukunft der documenta Ihrer Ansicht nach aussehen?
Wichtig ist es, aus den Fehlern zu lernen. Also künftig ordentlich zu kuratieren, Verantwortung zu übernehmen und sich nicht in die Büsche zu schlagen, wenn es brenzlig wird.
Mit dem Direktor des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in Hessen sprach Imanuel Marcus.