Porträt der Woche

»Ich glaube an junge Menschen«

Ruchama Stern arbeitet mit Kindern und engagiert sich im Schüleraustausch

von Alicia Rust  23.02.2025 14:47 Uhr

Ruchama Stern (58) lebt in einer Kleinstadt an der Müritz und arbeitet in Berlin. Foto: Stephan Pramme

Ruchama Stern arbeitet mit Kindern und engagiert sich im Schüleraustausch

von Alicia Rust  23.02.2025 14:47 Uhr


Die Welt, die uns durch das Lesen von Büchern vermittelt wird, ist in meinen Augen ein großer Reichtum. Ich lese für mein Leben gern, und zwar nahezu alles, was ich in die Hände bekomme. Schon als Kind habe ich fast jede Woche unsere Bibliothek in Aschdod aufgesucht, also in jener Stadt südlich von Tel Aviv, in der ich geboren wurde und aufgewachsen bin. Damals war Aschdod noch fast ein Dorf, heute ist es eine pulsierende Metropole.

In unserer Schulbibliothek gab es eine Bibliothekarin, die anders war als alle Menschen, die ich bislang aus meinem Umfeld kannte. Sie war sehr beeindruckend, hieß Magda Diekmann, und sie war eine Holocaust-Überlebende. Magda hatte ein untrügliches Gespür dafür, was so ein kleines Mädchen wie ich wohl gern lesen würde. Jede Woche überreichte sie mir ungefähr fünf Bücher, die ich alle mit den Augen verschlang.
Zudem nahm mich mein Vater regelmäßig mit in die Stadtbibliothek, da er ebenfalls Bücher über alles liebte. Und natürlich war da noch unsere eigene Bibliothek zu Hause, gefüllt mit religiöser Literatur. Mein Vater Yehuda Kapach war Rabbiner an der Synagoge der jemenitischen Gemeinde. Er gab regelmäßig Tora-Unterricht. Damals, zu meiner Geburt vor 58 Jahren, kannte noch jeder jeden in Aschdod, und vor allem unsere Familie war bekannt.

Ich bin als ältestes von vier Kindern in einer orthodoxen Familie aufgewachsen. Neben mir gibt es noch drei jüngere Brüder. Meine Eltern sind sehr religiös. Sie sind Zionisten, beide wurden bereits in Israel geboren. Meine Vorfahren väterlicherseits kommen aus dem Jemen, die Vorfahren meiner Mutter stammen aus dem Jemen und Portugal. Meine Safta Haviva, die Mutter meines Vaters, hat damals in Jerusalem gelebt, ich habe sie sehr geliebt, sie war eine gütige Frau.

Ich konnte nichts anstellen, ohne dass es meine Eltern bereits wussten, bevor ich heimkam

Mein Vater engagierte sich zeitlebens ehrenamtlich und gründete und leitete später die erste und bislang einzige Ulpana in Aschdod. Auch ich besuchte diese jüdische Highschool, eine reine Mädchenschule, auf der neben dem staatlichen Lehrplan auch intensiver Religionsunterricht Bestandteil unserer Bildung war. 1985 machte ich dort mein Abitur. Meine Leistungsfächer waren Mathematik, Biologie, Englisch und Religionswissenschaft.

Von uns Vieren war ich als Kind sicher das Rebellischste, ich habe es nämlich von früh an als unfair empfunden, dass meine jüngeren Brüder so viel mehr durften als ich, und das nur, weil sie Jungs waren. Ich konnte nichts anstellen, ohne dass es meine Eltern bereits wussten, bevor ich heimkam. Die soziale Kontrolle war damals extrem. Ich stand unter permanenter Beobachtung, das ging beim traditionellen Dresscode los und hörte bei den richtigen Verhaltensweisen auf. Aber natürlich gab es auch lustige Episoden.

Wenn ich ein Lieblingsbuch habe, dann »Hallo, Mister Gott, hier spricht Anna«.

Als mein Vater Direktor der Mädchenschule wurde, ermahnte er mich, ich hätte mich genauso zu verhalten wie alle anderen Schülerinnen. Ich solle mir bloß nicht einbilden, eine Sonderstellung zu haben, weil ich die Tochter des Rektors sei. Irgendwann wurden einige Mitschülerinnen und ich am Nachmittag in der Stadt beim Schulschwänzen erwischt. Auf das Donnerwetter meines Vaters antwortete ich: Du hast mir doch gesagt, ich solle mich genauso verhalten wie die anderen. Und die haben nun einmal beschlossen, dass wir die Schule schwänzen.

Meine Mutter Adina war Grundschullehrerin, und nebenbei engagierte sie sich ehrenamtlich in der Gemeinde – bis heute. Sie ist 84 Jahre alt und nach wie vor recht aktiv, sie gibt zweimal pro Woche Tora-Unterricht und begleitet Frauen bei der Konversion. Sie engagiert sich in einer Freiwilligenorganisation, die Essen und Geld für sozial Benachteiligte sammelt. Nach dem Abitur, 1986, zog ich zunächst nach Jerusalem. Dort machte ich – während meines Nationaldienstes – in der Umgebung erste Erfahrungen im Umgang mit Kindern und Jugendlichen. Es handelte sich um eine Art Zivildienst, den junge Leute wie ich machen konnten, die aus sehr religiösen Familien stammen. Dort kam ich in Berührung mit Kindern, die infolge persönlicher oder häuslicher Probleme durch das Jugendamt betreut wurden. Es war schwer zu ertragen, was manche von ihnen erlebt hatten.

Dass ich mich später in meinem Leben beruflich viel mit Kindern beschäftigen würde, war damals nicht absehbar. Zweimal habe ich mich für unterschiedliche Fächer an der Universität eingeschrieben, doch der rein akademische Weg war schwierig für mich. Schließlich lebte ich damals noch im Haus meiner Eltern, die Wege waren zu weit, auch gab es Widerstand aus der Familie.

Meine Söhne habe ich leider nicht sehr religiös erzogen

Elternrat Schließlich heiratete ich und bekam zwei Söhne. Ich habe mich dann sehr für schulische Belange im Elternrat engagiert. Meine Söhne habe ich leider nicht sehr religiös erzogen. Das war schmerzhaft für meine Eltern, was ich heute besser nachvollziehen kann. Mein ältester Sohn ist Schauspieler und überhaupt nicht religiös, er lebt in Berlin, und wir sehen uns häufig; mein Jüngerer lebt in Tel Aviv und ist den jüdischen Traditionen eng verbunden. Er arbeitet erfolgreich in der IT-Branche.
Nach meiner Scheidung ging ich nach Tel Aviv. Mein Ex-Mann, der in Jerusalem lebt, und ich pflegen nach wie vor einen guten Umgang miteinander. In Tel Aviv arbeitete ich sieben Jahre lang für eine deutsche Baufirma, die Strabag. Dort war ich mit den organisatorischen Abläufen rund um den Bau des längsten Wassertunnels in Israel befasst, eine spannende Zeit. Im Zuge dieses Projekts lernte ich 2016 auch meinen heutigen Lebensgefährten kennen, einen Ingenieur.

Aus beruflichen Gründen ging es zunächst nach Schweden, die Zeit in Stockholm habe ich in bester Erinnerung. Für jemanden, der wie ich aus Israel kommt, ist es paradiesisch, plötzlich derart viel Natur um sich zu haben und vier verschiedene Jahreszeiten zu erleben. Vom Balkon aus konnte ich auf Berge und einen Wald schauen und Rehe beobachten. Die Menschen waren freundlich, höflich, alles war sauber, sicher. Anfangs lief ich wie auf einer Wolke durch diese neue Welt.

2019 verschlug es mich nach Deutschland, zunächst in eine kleine Stadt in Mecklenburg-Vorpommern, wo wir heute noch einen Wohnsitz haben. Während der Woche lebe ich inzwischen in Berlin. Dort arbeite ich als Erzieherin an einer jüdischen Schule. Bald nach meiner Ankunft in Deutschland besuchte ich einen Sprachkurs und nahm an einem Integrationskurs teil. Nicht lange, – und das Land befand sich im Ausnahmezustand. Covid brach aus.

Ein Glück, dass ich auch bald auf Menschen traf, mit denen ich auf einer Wellenlänge war

Diese Zeit der Isolation während der Pandemie war rückblickend eine willkommene Pause für mich. So konnte ich mich ganz auf das Lernen der neuen Sprache konzentrieren und mich mit der Geschichte des Landes auseinandersetzen. Ein Glück, dass ich auch bald auf Menschen traf, mit denen ich auf einer Wellenlänge war. Bedingt durch mein Engagement bei »Land und Leute e.V.« in Röbel an der Müritz, wurde ich in ein Austauschprojekt für deutsche und israelische Jugendliche eingebunden.

Da bin ich bis heute dabei und begleite israelische, deutsche und polnische Jugendliche im Schüleraustausch. Die Arbeit ist unglaublich wertvoll und erfüllend. Wenn junge Menschen unterschiedlichster Kulturen miteinander in Berührung kommen, bauen sie Vorurteile ab. Mit der Geschichte der Juden in Mecklenburg-Vorpommern beschäftige ich mich auch. Inzwischen machen wir mit unserem Verein einmal im Jahr eine Veranstaltung dazu.

Ich liebe »McPomm«, auch wenn es in den Medien zurzeit so verschrien ist. Die Landschaft ist wunderschön, die Menschen sind freundlich und hilfsbereit. Aber natürlich merkt man, wie sich der politische Wind dreht, und das bereitet mir Sorgen.

Ich liebe »McPomm«, auch wenn es in den Medien zurzeit so verschrien ist

Wenn es so etwas wie ein Lieblingsbuch für mich gibt, dann würde ich »Hallo, Mister Gott, hier spricht Anna« nennen. Es wurde bereits in den 30er-Jahren geschrieben. Ein wunderbares Buch, ich habe es vielfach und in zahlreichen Sprachen verschenkt. Dabei handelt es sich im Grunde um ein Kinderbuch.

Es geht darum, dass Kinder von Natur aus ein beinahe philosophisches Gespür dafür haben, was richtig ist und was nicht. Erst mit zunehmendem Alter verändert sich das durch Erziehung und durch Prägung. Deshalb arbeite ich auch so gern mit Kindern zusammen. Denn ich glaube an die positive Energie kluger junger Menschen, die aktiv und optimistisch ihre Umwelt gestalten und sich nicht durch infiltrierten Hass fernsteuern lassen.

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