Ich wünsche allen Kindern, dass sie nicht – so wie ich – mit den Fotos ihrer ermordeten Familienangehörigen spielen müssen, sondern dass sie Spielzeug nehmen dürfen. Ich habe meine Verwandten nicht kennenlernen können. Als Kind war ich oft krank, mir wurde Bettruhe verordnet. Dann musste ich mir meine Hände waschen und durfte für eine Stunde mit den Bildern spielen, als wenn sie Puppen wären. Das erzählte ich bei einer Rede zum 9. November, die ich vor ein paar Jahren hielt.
Meine Großmutter war eine unerschrockene Frau. Als in Lettland 1941 die Deportationen anfingen, packte sie die Fotos ein und vergrub sie. »Wer es überlebt, gräbt alles wieder aus«, soll sie gesagt haben. Einige Monate später wurde sie im Ghetto erschossen. Jahre später fuhr meine Mutter, Silvia, wieder dorthin und buddelte alles wieder aus. So kommt es, dass ich weiß, wie meine 38 Verwandten ausgesehen haben. Meine Mutter liebte es, mir immer wieder von ihnen zu berichten. Jedes Gesicht wurde besprochen. So begleiteten sie mich durch mein Leben. Zwei Kerzenleuchter, eine silberne Kelle, mit der meine Großmutter immer die Suppe ausgeschenkt hatte, hat sie ebenfalls wiedergefunden.
Ghetto Obwohl meine Mutter so viel von ihrer Flucht aus dem Ghetto und ihrem Leben in der Illegalität sprach, ließ sie sich nicht überreden, ihre Erlebnisse aufzuschreiben. So dachte ich jedenfalls. Sie sagte immer, dass sie entweder keine Lust habe oder ihr die Arme wehtäten. Nach ihrem Tod fand ich in einer Schublade einen braunen Umschlag, auf dem mein Name und der meiner Tochter standen. Ich war überrascht, als ich ihre Handschrift sah. Eng beschrieben, hatte sie auf einigen Seiten doch alles festgehalten.
Obwohl es gefährlich war, besuchten wir die Synagoge.
1941 wurden ihr Vater und eine Schwester bei einer Erschießungsaktion getötet. An einem kalten Oktobertag, vorbei an Leichen und Blutlachen, mussten meine Großmutter, meine Mutter und drei Tanten ins Ghetto umziehen.
Sie musste Zwangsarbeit leisten, genau wie ihre Schwester Rosa. Im November 1941 wurden sie in einem Gefängnis festgehalten. Als sie wieder herauskamen, eilten sie in die Ghetto-Wohnung – in der Hoffnung, alle wiederzutreffen. Dort angekommen, fanden sie zerwühlte Betten und Reste einer Mahlzeit auf dem Tisch vor. Das Bild der Großmutter hing an der Wand. Das steckte meine Mutter ein. Ich werde es einmal an meine Tochter vererben.
Meine Mutter war als junge Frau blond und hellhäutig. »Fliehen Sie, ich verstecke Sie«, sagte der Ghetto-Fahrer, der vorher bei ihnen in der Firma gearbeitet hatte. Sie und Rosa nahmen die Chance wahr. Meine Mutter warf ein Tuch über ihren Kopf und ihre Brust, sodass der gelbe Stern nicht mehr zu sehen war, und setzte eine Brille auf. So schlüpfte sie den Eingang hinaus. Aber sie hatte nie wieder so ein starkes Herzklopfen wie in diesem Moment. Die ehemalige Hausmeisterin versteckte sie.
Odyssee So begann eine dreijährige Odyssee. Immer wieder gewährten ihr Menschen Unterschlupf, mithilfe eines manipulierten Passes nahm sie die Identität der Deutschen Anni Müller an, erhielt einen Job als Sekretärin, hatte eine Wohnung – als Jüdin im von Deutschen besetzten Riga. Mein Vater, dessen Frau und Tochter umkamen, und mein Großvater konnten dank des »lettischen Schindler«, Zanis Lipke, aus dem KZ Kaiserwald fliehen. Nach dem Krieg gingen sie nach Riga, wo er meine Mutter kennenlernte.
Als meine Tochter vor ein paar Jahren in Israel heiratete, waren aus meiner hiesigen Familie gerade einmal fünf Leute dabei, weil ich kaum Angehörige habe.
Lettland war von 1919 bis 1940 ein demokratisches und unabhängiges Land. Dann kamen die Sowjets, und alles ging den Bach runter. Mein Vater stammt aus einer Rabbinerfamilie und wäre vielleicht selbst Rabbi geworden, aber das verhinderte der Erste Weltkrieg. Er war religiös, meine Mutter war eher säkular aufgewachsen. Sie besuchten in der Nachkriegszeit die Synagoge, obwohl es gefährlich war. Wir Kinder durften aus diesem Grund nicht mit. Dennoch hieß es bei uns oft: »Treffen wir uns im Gottesdienst!« Ich erinnere mich, dass ich Anfang der 70er-Jahre in unserer Synagoge, zusammen mit anderen jüdischen Jugendlichen, Simchat Tora gefeiert habe. Die Sederabende hingegen feierten wir immer zu Hause.
Emigration Bereits 1966 dachten meine Eltern an Emigration, als im Rahmen der ersten »grünen Welle« Juden nach Israel ausreisen durften. Eine Cousine meiner Mutter schrieb uns aus Rischon LeZion. Sie hätte uns eine Einladung schicken können, ohne die eine Ausreise nicht möglich war. Aber meine Eltern hatten so viel Angst, dass sie den Brief nicht annahmen. Im Vergleich zu Russland hatten wir hier ein intaktes jüdisches Leben. Die Jungen wurden in Privatwohnungen von einem Mohel beschnitten. An zwei Hochzeiten erinnere ich mich auch.
Alle Juden Rigas klebten am Radio und lauschten »Kol Israel«. Doch meine Mutter, die in einem deutschsprachigen jüdischen Kulturkreis aufgewachsen war, wollte lieber nach Deutschland, während mein Vater Israel bevorzugte. Doch fürchteten wir, dass er das israelische Klima nicht so gut vertragen könnte. Zu jener Zeit war er 73 Jahre alt und schwer herzkrank. Für meine Mutter und mich war Deutsch Muttersprache, mein Vater sprach mit seiner Familie Jiddisch, mit uns Deutsch.
Meine Eltern wollten, dass ich eine Chance bekomme, frei zu sein.
Ausschlaggebend für unsere Emigration war meine Zukunft. Meine Eltern wollten, dass ich eine Chance bekomme, frei zu sein und das Jüdischsein frei ausleben kann. Meine Mutter hatte immer zwischen der Schoa und der deutschen Sprache unterschieden. »Ich sehe es nicht ein, es nicht zu sprechen«, sagt sie.
In Deutschland waren meine Eltern glücklich. Ich vermisste schmerzlich meinen Freundeskreis, genoss aber trotzdem die totale Freiheit. Hier musste man keiner Partei beitreten, man wurde nicht gezwungen, wählen zu gehen. In Riga war es anders. Da musste ich als Studentin den alten Leuten die Wahlurne nach Hause bringen und ihnen helfen, den Stimmzettel einzuwerfen. Hier war alles frei.
minjan-mann Mein Vater wurde in der jüdischen Gemeinde gefragt, ob er Minjan-Mann sei. Er hatte ein profundes religiöses Wissen und kannte viele Gebete auswendig. Für ihn waren die Gottesdienste eine Erholung. Allerdings betete er in einem heute kaum noch erhaltenen aschkenasischen Hebräisch, das nicht für alle verständlich war. Für meine Mutter waren die Besuche der Synagoge eher ein Kommunikationsgeschehen. Ich hatte ein abgeschlossenes Germanistik-Studium aus Riga mitgebracht, denn ich war damals bereits 26 Jahre alt.
Doch in Deutschland reicht ein Fach nicht, ich musste also noch ein zweites, Slawistik, dazu nehmen. Ich schaffte in zwei Semestern mein Erstes Staatsexamen an der Uni Münster und promovierte dort auch zum Dr. phil. 44 Jahre unterrichtete ich an der Uni russische Sprache und Literatur, und zwar gerne.
Mein verstorbener Mann stammte aus einer adligen katholischen Familie, die mich sehr herzlich aufnahm. Vor unserer Heirat hat er bereits den Wunsch geäußert, zum Judentum zu konvertieren. Er fühlte sich zu dieser Religion hingezogen.
Gemeinde Seit 1990 engagiere ich mich in der Jüdischen Gemeinde im Bereich Sozialarbeit, außerdem bin ich zur stellvertretenden Vorsitzenden gewählt worden. Eigentlich bin ich ein schüchterner Mensch, doch ich habe nun gelernt, dass es leicht ist, sich für andere einzusetzen. Mein Arbeitsbereich ist groß: Ich helfe bei Familienzusammenführungen, Wohnungen zu beschaffen, Sprachkurse zu organisieren und bei der Lösung von Alltagsproblemen. Dreimal die Woche biete ich in der Gemeinde Beratungen an, dazu kommen noch die Treffen mit dem Vorstand und der Gemeindevertretung.
Meine Tochter war im Jugendzentrum aktiv, leitete es auch und lebt heute mit ihrer Familie in München. Drei Enkel habe ich, und ich bin eine begeisterte Oma. In Münster wohne ich im Gebäude der ehemaligen Jüdischen Grundschule und dem Rabbinerseminar der Jüdischen Gemeinde. Früher wurden alle acht Wohnungen an Mitglieder unserer Gemeinde vermietet, die Gründer unserer Gemeinde, Siegfried und Else Goldenberg, wohnten auch dort. Damals gingen wir an den Hohen Feiertagen Schulter an Schulter in die Synagoge. Zwischendurch zog ich für ein paar Jahre nach Bremen, bis ich mit meiner Tochter 1999 wieder in die Erdgeschosswohnung einzog. So lebten meine verwitwete Mutter und ich bis zu ihrem Tod wieder in einem Haus. Mittlerweile bin ich die einzige jüdische Mieterin.
Heute mag ich es, den Vormittag spät und geruhsam zu beginnen. Mein erster Griff geht zum Handy, denn da blinken morgens schon Nachrichten und Anfragen auf. Das schätze ich.
Aufgezeichnet von Christine Schmitt