Porträt der Woche

»Ich folge meinem Weg«

Deborah Petroz-Abeles ist stolz auf ihr Judentum und ihre afrikanische Herkunft

von Alice Lanzke  09.11.2015 22:29 Uhr

»Ich fühle die Stimmen und Seelen meines Volkes«: Künstlerin Deborah Petroz-Abeles (66) aus Berlin Foto: Uwe Steinert

Deborah Petroz-Abeles ist stolz auf ihr Judentum und ihre afrikanische Herkunft

von Alice Lanzke  09.11.2015 22:29 Uhr

Steine haben für mich eine große Bedeutung. Ich bin in Südrhodesien, dem heutigen Simbabwe, aufgewachsen. In der Nähe meiner Heimatstadt Bulawayo liegt der Nationalpark Matopo, der fantastische Steinformationen hat – geformt durch Tausende Jahre Erosion.

Als Kind beeindruckten sie mich sehr, ebenso wie die Ruinenstadt der Provinz Groß-Simbabwe. Generell glaube ich, dass es heilende Steine gibt – ich sammle sie, trage sie und bin an ihrer Energie interessiert. Das hebräische Wort für Stein ist »Even«. Es enthält die Wörter für Vater (Av) und Sohn (Ben).

Menschheitsgeschichte Somit steht jeder Stein für die Vereinigung von Vater und Sohn und ihr Überdauern über Generationen. Das empfinde ich sehr stark. Ich sage immer, dass ich alt geboren wurde mit Tausenden Jahren Geschichte: jüdischer, afrikanischer, Menschheitsgeschichte. Steine verbinden uns mit dieser Geschichte.

Ein weiterer Aspekt der Steine sind Gräber: Wenn wir die Toten auf jüdischen Friedhöfen besuchen, bringen wir keine Blumen, sondern legen einen Stein aufs Grab. Es gibt verschiedene Theorien zum Ursprung dieser Tradition. Früher verhinderten Steine in der Wüste, dass Tiere sich an den Leichnamen zu schaffen machten.

Dort gab es auch keine Blumen – anders als heute, wenn ein neuer Stolperstein verlegt wird. Dann gibt es immer ein schönes Bouquet, vielleicht auch Kerzen, die auf die nagelneuen, strahlenden Messingsteine scheinen. Anstelle von kaltem Metall sollten sie aus echten Steinen bestehen und sich nicht auf dem Boden befinden, sondern auf Augenhöhe. Ich frage mich, was die Nationalsozialisten denken würden, wenn sie die Stolpersteine sehen würden.

In meinen Augen hat dieses Projekt ihren größten Wunsch materialisiert. Es sagt: »Schaut, wie viele ermordete Juden es gibt.« Es geht mir nicht darum, die Arbeit eines anderen Künstlers zu kritisieren, ich bin selbst Künstlerin, keine Aktivistin! Aber ich folge meinem Weg. Das war auch so, als ich zur Kunst kam.

familie Eigentlich stamme ich aus einer Familie von Medizinern und wurde in Israel zur Beschäftigungstherapeutin ausgebildet. Als mein erster Ehemann beruflich nach Paris zog, begleitete ich ihn, zog aber dann weiter in die Schweiz, mit zwei Kindern, einem Hund und einem Koffer, während er nach Israel zurückkehrte.

Mein jetziger Mann hat eigentlich meine Gabe erkannt: Er sah etwas in meinen ständigen Kritzeleien. 1986 hatte ich meine erste Ausstellung, so nahm alles seinen Lauf. Ich glaube, es war ein großer Vorteil, spät anzufangen, weil ich meine eigene Geschichte und die anderer Menschen mitbrachte: Als ich zu meiner Kunst kam, hatte ich den Sechstagekrieg, den Jom-Kippur-Krieg, die Scheidung meiner Eltern sowie meine eigene erlebt. Es ist Teil meiner Persönlichkeit, Risiken einzugehen. Der Schritt zur Kunst war so ein Risiko – nun will ich wissen, wie Kunst die bestmögliche Hommage an die Ermordeten schaffen kann.

kaufhaus Im Jahr 2000 fand ich in einem Berliner Antiquariat ein lila Buch mit der Aufschrift Kaufhaus Nathan Israel Album 1912: Die Hygiene im Wandel der Zeit. Das machte mich neugierig, denn 1912 wurde meine Mutter geboren, und der Name Israel verriet ein jüdisches Thema.

Mein Deutsch war damals noch schlecht. Daher übersetzte mir eine Freundin, worum es in dem Band ging. Sie sagte mir, »Nathan Israel« sei der Name eines Kaufhauses gewesen. Ich suchte den Ort, wo das Geschäft gestanden haben musste, direkt gegenüber des Roten Rathauses, und fand: nichts. Dabei war es Berlins ältestes und lange Zeit auch größtes Kaufhaus gewesen.

Stattdessen entdeckte ich ein weiteres Antiquariat, das einen anderen Band dieser Reihe hatte. Die Bücher faszinierten mich, denn man sah, dass jemand sich sehr viel Mühe gegeben hatte, sie zu gestalten. Ich versuchte, mehr herauszufinden: Wer war die Familie Israel? Warum hatte sie diese Bände herausgegeben?

Bei meinen Recherchen in Berlin, London und New York fand ich weitere Alben. In einem von 1900 beschrieb ein Artikel, was die Familie alles für ihr Personal getan hatte – von Sozialleistungen bis hin zu Freizeitangeboten, und ich dachte: Das muss bekannt werden! Jemand muss an die Familie erinnern.

Collagen Also begann ich, Collagen dazu zu erstellen und zu malen. Das Ergebnis war die Reihe A Tribute To Kaufhaus N. Israel 1815–1939, die 2004 in meiner Galerie in Berlin und ein Jahr später im Jüdischen Museum Westfalen gezeigt wurde.

Wilfried Israel, der letzte Inhaber des Kaufhauses vor der Arisierung, ging 1939 nach England und rettete durch die Kindertransporte Tausende jüdische Kinder. Viele Menschen meinen, dass er dafür mehr Anerkennung bekommen sollte, und natürlich haben sie recht.

Andererseits denke ich, dass er das nicht braucht, denn auf eine bestimmte Weise lebt seine Energie, sein Licht weiter. Diese Energie der Vergangenheit nehme ich wie ein Medium in meine Arbeit auf und bringe sie ins Heute, damit sie für die Zukunft genutzt werden kann. Mir geht es darum, etwas Einzigartiges für eine Person zu erschaffen, indem ich ihr Leben in meiner Kunst verarbeite.

identität Die Stolpersteine hingegen erinnern an ermordete Juden. Meine Kritik an ihrem Konzept hängt vor allem mit meiner jüdischen Identität zusammen. In den 80er-Jahren besuchte ich Berlin zum ersten Mal. Zu dieser Zeit gab es keine Stolpersteine. Plötzlich erschienen all diese metallenen Namen in den Straßen.

Die Menschen lebten aber in den Häusern. Ich fühle die Stimmen und Seelen meines Volkes und meiner Großeltern, die das Schicksal von vielen in den Lagern teilten. Das tut mir weh. Dabei liebe ich Berlin. Ich habe mir ausgesucht, hier zu leben, muss aber aufpassen, wo ich meine Füße hinsetze, besonders bei Nacht. Ich sehe andere Menschen auf die Stolpersteine treten, mit Fahrrädern darüberfahren, Vögel, die sie verdrecken – das ist sehr schmerzhaft für mich als Angehörige der zweiten Generation von Überlebenden.

Ein weiteres Problem entdeckte ich, als ich die Stolpersteine im englischsprachigen Wikipedia nachschlug. Dort steht, dass ein früheres Sprichwort besagte: »Hier liegt ein Jud’ begraben«, wenn jemand stolperte. Das verstört mich. Ich glaube nicht, dass die Erfinder der Stolpersteine ihr Projekt wirklich zu Ende durchdacht haben. Für mich ist es nicht genug, den letzten Abschnitt eines Lebens vor der Ermordung als Symbol zu nehmen.

Es gibt einige wundervolle Gedenkprojekte, zu denen man gehen kann, ohne jemandes Leben unter den Füßen zu haben. Ein berührendes Beispiel ist in meinen Augen das Mahnmal Levetzowstraße. Es hat für mich eine Seele – ich muss mich dort hinsetzen, einfach sein und fühlen.

»Stolzesteine« Ich suchte in einem Wörterbuch nach »Stolpersteinen« und fand als nächsten Eintrag »Stolz« – das hat mich inspiriert. Es war die Zeit meiner Recherchen zum Kaufhaus Nathan Israel, dessen Eigentümer sehr stolz auf die zentrale Lage ihres Hauses waren.

Stolz bin auch ich – auf mein Judentum, mein Frau-Sein und meine afrikanische Herkunft. So entwickelte ich die »Stolzesteine« als Gegenprojekt zu den Stolpersteinen.

In meinen Bildern und Collagen ist immer mindestens ein Stein in die Farbe eingearbeitet: Er beeinflusst die Gesamtkomposition. Bei jedem Bild habe ich lange überlegt, um den richtigen Platz zu finden. Ich würde die Ermordeten gerne fragen, was sie wollen: Soll ich zu einem Ort kommen, mich auf sie konzentrieren und reflektieren? Oder soll ich über sie stolpern? Aber wir können sie leider nicht mehr fragen.

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