Ich habe lange geschwiegen, wie viele andere Überlebende auch. Mit meinen Kindern sprach ich nicht über meine Lebensgeschichte, selbst mit meiner Frau nicht, und wir waren 55 Jahre verheiratet.
Sie wussten nichts über mich. Doch irgendwann, vor 20 Jahren, sagte mir ein Psychiater, dass ich sprechen müsse, sonst würde ich krank werden. Und so begann ich, meine Geschichte an Schulen zu erzählen und sie in meinem Buch Ich lebe, um zu überleben aufzuschreiben.
Mittelstand Ich wurde im Dezember 1933 in Lodz geboren. Mein Vater war Bauingenieur, meine Mutter Klavierlehrerin, sie hatte in Berlin studiert. Wir waren eine ganz normale Familie, aus dem besseren Mittelstand. In Lodz wohnten wir im Haus meines Opas. Warum er vermögend war, weiß ich nicht, aber in dem Haus wohnten all seine erwachsenen Kinder: meine drei Onkel und meine Tante, alle ledig, und mein Papa, meine Mama und ich. Dort spielte sich das Leben ab.
Ich war das einzige Kind in der Familie und wurde von allen verwöhnt. Bei uns zu Hause wurden Polnisch und Jiddisch gesprochen, meine Mutter sprach Deutsch mit mir. Meine Erinnerungen beginnen ungefähr mit meinem sechsten Lebensjahr 1939.
Der SS-Mann riss mich hoch und schleuderte mich gegen die Wand. Da war ich sechs Jahre alt.
Meine erste Begegnung mit den Nazis hatte ich Anfang 1940. Ich saß auf einem Tisch im Esszimmer, weil meine Mutter mir die Schuhe schnürte. Plötzlich wurde die Tür aufgebrochen, und drei, vier Leute in Uniform kamen hereingestürmt. Ich streckte die Arme aus, weil ich es gewohnt war, dass mich die Erwachsenen in die Arme nahmen. Doch der SS-Mann riss mich hoch und schleuderte mich gegen die Wand. Die haben Gold und Dollar gesucht.
Als ich wieder zu mir kam, waren meine Eltern hysterisch vor Sorge. Ich hatte ja keine Vorstellung, was die Nazis überhaupt sind. Ich wurde zu Hause nie bestraft oder geschlagen, ich wusste gar nicht, was passiert, und mir als Sechsjährigem wurde auch nichts erklärt. Ein paar Monate später mussten wir ins Ghetto von Lodz.
LAGER Mein Opa war gestorben, der Rest der Familie kam gemeinsam in zugeteilte Wohnungen im Ghetto, das mit Stacheldraht abgeriegelt war. Die SS fuhr mit Motorrädern durch die Straßen, daran erinnere ich mich noch, das begeisterte mich, weil ich noch nie ein Motorrad gesehen hatte.
Mein Vater wurde als Ingenieur zur Zwangsarbeit eingezogen und musste in der Schneiderei die Produktion von Uniformen für die Wehrmacht leiten. Als der Gauleiter Hans Biebow das Ghetto übernahm, suchte er für die Verwaltung eine Sekretärin mit perfekten Deutschkenntnissen. Da meine Tante auch in Berlin gelebt hatte und ein deutsches Abitur besaß, wurden sie und eine weitere Frau angestellt. So wurde sie Sekretärin des Massenmörders – und das hat mir das Leben gerettet. Mein Onkel bekam einen Job in der Brotverteilung, dadurch hatten wir etwas mehr zu essen.
UNterschrift Als alle alten Menschen und Kinder aus dem Ghetto in Vernichtungslager abtransportiert wurden, besorgte meine Tante mir eine »Lebensbescheinigung«. Biebow war Alkoholiker, sie hatte ihm im Suff ein Papier zur Unterschrift gegeben, das mir den Verbleib im Ghetto erlaubte. Es gab insgesamt vielleicht nur noch sechs oder sieben andere Kinder, die auch verschont wurden. Täglich sah man Tote auf der Straße. Ich weiß noch genau, dass ein braunes Pferd den Leichenwagen zog, auf dem offenen Wagen türmten sich die leblosen Körper.
Ich musste dann imprägnierte Tüten für die Wehrmacht kleben, wurde also mit zehn zur Zwangsarbeit eingeteilt. Irgendwann wurden fast alle aus dem Ghetto in Arbeitslager transportiert. Wir kamen nach Ravensbrück, wieder rettete mich meine Tante, weil sie auf Deutsch mit dem SS-Mann sprechen konnte. Sie bestand darauf, dass ich mit ihr kommen sollte. Mich schickte sie schnell auf den Lastwagen, auf dem ich mich flach hinlegte, so kam ich mit meiner Tante ins Frauenlager.
Horror Das Lager war ein Horror. 30 bis 40 Frauen in jeder Baracke, es war grausam. Läuse zerfraßen meine Beine, jeden Morgen mussten die Frauen zum Appell, es wurde gezählt, wie viele in der Nacht gestorben waren. Im ganzen Block war ich das einzige Kind, ich blieb dort sieben, acht Monate. Wo mein Vater und meine Onkel hingebracht wurden, wusste ich nicht. Ich war mehr tot als lebendig, als wir mit Lastwagen nach Königs Wusterhausen gebracht wurden, wo wir sie tatsächlich wiedertrafen. Beide Onkel waren sehr krank, ich halb verhungert.
Meine Mutter ist im Lager in Königs Wusterhausen verhungert, sie starb an Purim, nur wenige Wochen vor Kriegsende.
Meine Tante wurde von dort nach Auschwitz geschickt und auf dem Weg von den Nazis während der Fahrt aus dem Zug geworfen. Das haben uns Überlebende später erzählt. Meine Mutter ist im Lager in Königs Wusterhausen verhungert, sie starb an Purim, nur wenige Wochen vor Kriegsende. Mein Vater hat sie später exhumiert und in Weißensee begraben.
Befreiung Mit meinem Vater und den Onkeln wurden wir nach Sachsenhausen gebracht. Da war ich 13 Jahre alt. Dort wurden wir in den Krankenblock gebracht, eigentlich ein Todesurteil. Wir mussten uns mit 30 Mann gegen die Wand stellen, die SS kam, um uns zu erschießen. Doch sie ließen uns allein, und Stunden später kamen russische Soldaten. Das war die Befreiung.
Die russische Ärztin gab mir wenig Überlebenschancen, sie sagte, meine Beine müssten amputiert werden. Mein Vater bestand darauf, zu einer Apotheke nach Bernau zu fahren, sodass ich dort mit Teersalbe verbunden werden konnte.
Im Dorf Schmachtenhagen verbrachten wir die ersten Wochen nach der Befreiung, wir konnten ja nichts zu uns nehmen. Das Einzige, was wir vertrugen, waren gekochte Kartoffeln. Wegen meines Zustands blieben wir in Berlin in einem DP-Camp. Mein Vater, mein Onkel Pavel und ich waren die Einzigen, die überlebt haben. Mein Vater starb wenige Jahre später an den Folgen des Hungers.
AMERIKA Ich kam mit 16 in ein Kinderheim in Bad Aibling. Bis dahin war ich keinen einzigen Tag zur Schule gegangen. Über die Organisation Joint kam ich mit 17 nach Amerika, ein Bekannter aus Lodz bürgte für mich. Mein Onkel Pavel hatte schon Arbeit, ich zog zu ihm nach New York, direkt an den Broadway. Ich arbeitete als Kurier und im Versandhaus.
Doch dann trafen mein Onkel Pavel und ich zufällig auf einen alten Schulfreund aus Lodz. Der hat geweint vor Freude, als sie sich begegnet sind. Und er hat uns beiden einen Job verschafft. So bin ich in der Filmbranche gelandet und lernte Cutter. 1956 wurde ich amerikanischer Staatsbürger. Aber das ist ein eigenes Buch für sich.
fRAU Kurz darauf lernte ich meine Frau kennen, in einem Café in Germantown. Sie war zu Besuch bei ihrem Onkel Rudi aus Lübeck. Wir heirateten, bekamen zwei Kinder, ich verdiente gut beim Film, wir hatten ein Haus auf Long Island. Nebenbei verkaufte ich Perlen. Meine Frau war nicht jüdisch, wir haben es irgendwie verpasst, in der Synagoge zu heiraten, aber unsere Kinder sind beide jüdisch aufgewachsen. Doch 1972 sagte ich meiner Frau: »Unsere Kinder sollten nicht ohne Großeltern aufwachsen, lass uns für zwei Jahre nach Lübeck ziehen.«
Also verkauften wir das Haus und kehrten nach Deutschland zurück. Ich fand schnell einen Job und machte mich selbstständig, meine Kinder machten ihr Abitur. Wir blieben. Ich habe hier eine neue Generation Deutscher kennengelernt. Eine, die gar nichts mit den Nazis zu tun hatte, liebe, normale Leute. Ich kannte Deutsche nur als Verbrecher, die mich als »Judensau« und »dreckiger Judenjunge« beschimpft hatten.
Natürlich habe ich Spätschäden. Ich hatte lange Zeit Albträume, ich versuche, Leute um mich herum zu schützen.
Natürlich habe ich Spätschäden. Ich hatte lange Zeit Albträume, ich versuche, Leute um mich herum zu schützen. Das Schlimmste aber war, dass ich mich lange selbst nicht als Mensch betrachtet habe. Ich liebe Jazz, Benny Goodman, Ella Fitzgerald. Als damals in Berlin der Film Ein Amerikaner in Paris lief, wollte ich den unbedingt sehen. Ich habe meinem Vater gesagt: »Ich kann doch nicht ins Kino gehen, dort sitzen doch nur Menschen.« Bis zu meinem fünfzehnten Lebensjahr war ich der Ansicht, dass ich nicht zur menschlichen Rasse gehöre. Wenn einem eingeredet wird, man sei kein Mensch, glaubt man das irgendwann. Das war mein größtes Problem.
Meine Frau ist vor sieben Jahren gestorben. Jetzt bin ich Alleinunterhalter und gehe von Schule zu Schule. Ich bin der Einzige der Überlebenden hier im Norden, der das noch kann, die anderen sind alle über 90. Die Stadt Lübeck hat mich 2010 offiziell rekrutiert, davor hatte ich nur ab und zu an Schulen gesprochen. Jetzt bin ich ausgebucht bis 2021. Ich kann gar nicht mehr zählen, wie viele Vorträge ich schon gehalten habe. Oft vor 200 bis 300 Schülern.
GEDENKFEIER Ich frage mich schon, wo die jetzigen Rechtsradikalen herkommen, aber das sind echte deutsche Probleme. Mit der AfD kommt ein politischer Rechtsruck, der schwer zu verstehen und zu diagnostizieren ist. Auch in Amerika ist der Rassismus immer noch da, genauso wie der Judenhass in Polen. Manche Vorurteile lassen sich nicht abschaffen.
So behandelte mich einmal im Krankenhaus eine Ärztin aus Kasachstan; ich trug einen Davidstern um den Hals, den mir mein Sohn geschenkt hat. Die Ärztin sagte ganz überrascht, ich sähe gar nicht wie ein Jude aus, die seien doch immer dunkel und hätten einen Schnurrbart. Der habe ich gesagt: »Entschuldigung, ich komme in zwei Wochen wieder, bis dahin sind mir Hörner gewachsen.« Sie war gewiss keine Antisemitin, aber so etwas sitzt ganz tief.
Obwohl ich nie eine Schule besuchte, habe ich doch gearbeitet, Geld verdient, eine Familie gegründet.
Obwohl ich nie eine Schule besuchte, habe ich doch gearbeitet, Geld verdient, eine Familie gegründet. Meine Tochter hat zwei Magistertitel, sie ist religiöser als ich, und mein Sohn arbeitet auch im Schmuckbereich, er lebt in Florida. Meine Enkelin studiert mittlerweile.
Leider wurden für mich jetzt viele Veranstaltungen wegen Corona abgesagt. Ich war zu einer großen Erinnerungsfeier in der Gedenkstätte Königs Wusterhausen eingeladen und sollte Vorträge in Flensburg halten. Hoffentlich dauert das nicht mehr zu lange. Denn solange ich kann, werde ich weiter in Schulen gehen und mit den Schülern sprechen.
Aufgezeichnet von Moritz Piehler