Porträt der Woche

»Ich erinnere mich genau«

Justin Sonder (1925–2020) sel. A. Foto: CITYLENS Chemnitz / André Koch

Von unserer Wohnung oben auf dem Kassberg haben wir einen schönen Blick auf Chemnitz. Meine Frau Marga und ich wohnen hier seit vielen Jahren, es ist eine sehr lebendige Gegend, früher galt sie als bürgerlich gehoben. Inzwischen ist alles viel internationaler – wir hören unterschiedliche Sprachen, und das tut der Gegend gut.

Zehn Minuten entfernt von hier stand die alte Chemnitzer Synagoge, ein damals weithin sichtbarer, erhabener Bau. In der Pogromnacht 1938 ging er in Flammen auf. Als kleiner Junge bin ich zweimal mit Vater in der Synagoge gewesen, das war an den Hohen Feiertagen. Ich erinnere mich noch an die schönen Fenster und das warme Ambiente. Aber Religion hat mich trotzdem nicht sehr interessiert, damals und auch heute nicht, bei allem Respekt vor religiösen Traditionen.

gemeinde Die neue Chemnitzer Synagoge, die vor 15 Jahren geweiht worden ist, steht im benachbarten Stadtteil Kapellenberg. Sie hat ein völlig anderes Antlitz, ist sehr modern gestaltet und gilt als ein recht offenes Haus. Ich bin kein Mitglied der Gemeinde, werde aber manchmal dorthin eingeladen: zu den Feiertagen, zu Vorträgen und Gedenkveranstaltungen, manchmal auch, um von meinen eigenen Erlebnissen während der Nazizeit zu berichten.

20 Jahre lang war mir das völlig unmöglich gewesen. Vieles hatte ich zwar schon im Sommer 1945 notiert, mit der Schreibmaschine, aber ich wollte es einfach niemandem zeigen. Selbst mit meinem Vater, der ebenso wie ich Auschwitz überstanden hat, wollte ich über all dieses Grauen nicht mehr sprechen, erst recht nicht mit meiner Braut und späteren Ehefrau Marga. Vater ist dann schon im Januar 1949 gestorben, er war nicht einmal 50 Jahre alt: Seine Gesundheit war vollkommen ruiniert.

Lager Meine Eltern waren im September 1942 von Chemnitz nach Theresienstadt und von dort im Januar 1943 nach Auschwitz deportiert worden. Ich erinnere mich noch genau an den Tag des Abschieds. Offiziell hieß es ja immer, die Menschen werden nach Osten »umgesiedelt«, aber natürlich hatten wir genug Hinweise und Vorahnungen, dass das eine Reise in den Tod werden würde.

Ich konnte meine Eltern noch zum Personenzug nach Theresienstadt begleiten, Vater wurde in gewisser Weise immer noch als Frontkämpfer aus dem Ersten Weltkrieg behandelt. Mutter habe ich danach nie mehr gesehen, in Auschwitz wurde sie gleich nach der Ankunft ermordet. Vater kam ins Stammlager.

Mich selbst haben die Nazis erst im Februar 1943 auf die Reise geschickt, über Dresden direkt nach Auschwitz. Ich war jung, sehr athletisch und durchtrainiert, hatte aber noch keine abgeschlossene Berufsausbildung. Als wir in Auschwitz ankamen und die berüchtigten »Aussortierungen« begannen, habe ich mich als Monteur ausgegeben. Damit bin ich dem Tod wohl das erste Mal ausgewichen, und das sollte in den nächsten zwei Jahren Dutzende Male passieren.

grauen Man hat mich nach Auschwitz-Monowitz verfrachtet, jenen Teil des Vernichtungslagers, wo wichtige industrielle Komplexe errichtet worden waren, unter anderem für die Buna-Werke der I.G. Farben. Jeden Tag starben dort Menschen an Überarbeitung und vor Hunger.

Auschwitz-Monowitz war die schlimmste Zeit meines Lebens. Ich bin zwar auch selbst viel angebrüllt, gedemütigt, geschlagen und gefoltert worden, und ich musste 17 Selektionen durch die SS überstehen. Aber was ich mit meinen eigenen Augen ansehen musste, das war noch viel schrecklicher, und das darf sich nie mehr wiederholen.

Immer wieder habe ich gesehen, wie wehrlose Häftlinge aus purem Hass oder aus Spaß getötet wurden und wie versucht wurde, ihnen davor auch noch die eigene Würde zu nehmen.

Durch eher glückliche Umstände haben mein Vater und ich uns in Auschwitz wiedersehen können, und später haben wir beide auch noch mehrere Todesmärsche überstanden. Das grenzt schon an ein kleines Wunder, aber für meine Mutter gab es keine Rettung.

Rückkehr Die Befreiung erlebten mein Vater und ich an unterschiedlichen Orten in Bayern. Trotzdem stand von Anfang an fest, dass wir nach Chemnitz zurückkehren wollten. Viele haben uns davon abgeraten, es hieß, die Stadt sei ein einziges Trümmerfeld.

Das war sie auch, für uns ein weiterer Schock. Aber Vater war immer ein sehr optimistischer Mensch, ein überzeugter Sozialdemokrat, und gleich nach der Rückkehr sind wir zusammen in die wiedergegründete SPD eingetreten. Ein Jahr später kam die Fusion mit der KPD, und so fanden wir uns dann in der SED wieder.

Mich selbst hat man gleich nach der Rückkehr gefragt, ob ich Verantwortung bei der neu aufzubauenden Polizei übernehmen könne. Auf eigenen Wunsch bin ich dann zur Kriminalpolizei gekommen, und die konnte nach dem Krieg nicht über Langeweile klagen: Es gab jede Menge Schieber und Schmuggler, der Schwarzmarkt blühte.

In meinen ersten beiden Dienstjahren war ich aber damit beschäftigt, einstige Nazihelfer dingfest zu machen. Kriminalpolizist wurde nicht nur mein Beruf, sondern auch eine Art Berufung, für mehr als 40 Jahre. Später habe ich dann noch eine juristische Ausbildung draufsatteln können.

zeuge Ab den frühen 90er-Jahren habe ich dann regelmäßig vor Schulklassen gestanden und von meinen Erlebnissen während der Nazizeit berichtet. Das mache ich auch heute manchmal noch, aber ich lasse es jetzt, mit meinen 90 Jahren, doch etwas ruhiger angehen. Manchmal bleibt allerdings keine Wahl – dann heißt es, wieder in die Öffentlichkeit zu gehen.

So war es im Februar, als der Prozess gegen den SS-Wachmann Reinhold Hanning vor dem Landgericht Detmold begann. Ich bin dort Nebenkläger und habe unter anderem berichtet, wie ein 16-jähriger Häftling aus Griechenland öffentlich gehenkt wurde, nur weil er während eines Luftangriffs ein Stück Brot aus der Lagerküche mitgenommen hatte. Noch heute stockt mir davon der Atem.

Viele meiner Erlebnisse sind in zwei Büchern festgehalten, die vor drei Jahren erschienen sind: Monowitz – Ich will leben! von Klaus Müller und Chemnitz – Auschwitz und zurück von Margitta Zellmer.

kinder Vor einigen Jahren habe ich den Ort des Grauens selbst noch einmal besucht – ich habe den damaligen Bundespräsidenten Christian Wulff nach Auschwitz begleitet. Die Begegnung mit Wulff hat mich zugegebenermaßen beeindruckt.

Das war einer der Momente, in denen ich gespürt habe: Dieses Land hat sich sehr verändert – es stellt sich seiner Geschichte, und es reflektiert über seine Zukunft. Das freut mich besonders für unsere Kinder Kerstin, Gerhard und André mit ihren Familien, für die sechs Enkel und für die mittlerweile neun Urenkel.

Natürlich bin ich öfters gefragt worden, ob ich denn 1945 nicht das Land verlassen wollte. Es mag sich komisch anhören, aber das war für mich keine Option. Zu Chemnitz hatte ich immer einen besonderen Draht, das ist bis heute so. Und die Stadt wird reicher durch die, die hinzukommen.

In unserem Wohnzimmer hängt ein impressionistisch gestaltetes Bild von der Innenstadt, gemalt von einem ukrainisch-jüdischen Künstler, der sich auch längst als Chemnitzer fühlt. »Alte« und »neue« Chemnitzer begegnen sich auch im jüdischen Restaurant »Schalom«, wo ich jedes Jahr am 23. April meinen individuellen Tag der Befreiung feiere – mit »Simcha«-Bier.

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