Frau Neuwald-Tasbach, Sie sind seit 16 Jahren Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Gelsenkirchen. Bei der nächsten Gemeindewahl möchten Sie nicht mehr kandidieren. Eine große Entscheidung.
Ja, ich bedauere es wirklich sehr, aber es ist für mich der richtige Zeitpunkt aufzuhören.
Was war für Sie der schwerste Moment als Gemeindechefin?
Das war im Mai 2021, als wir den gewaltsamen Aufmarsch vor der Synagoge hatten. Wir waren alle so erschrocken, und ich selbst fühlte mich wie gelähmt. Eigentlich bin ich ja immer optimistisch, aber nun war ich verzweifelt. Das war eine schwere Zeit für mich.
Gab es irgendetwas, das Ihnen geholfen hat, wieder positiver in die Zukunft zu schauen?
Wir erfuhren unglaublich viel Solidarität, und die hat tatsächlich den ersten Schock etwas gemildert. Uns erreichten viele Schreiben und Anrufe, in denen Menschen ihre Anteilnahme ausdrückten. Dann gab es die große Solidaritätskundgebung vor der Synagoge, die für mich auch ein wichtiges Signal war. Aufgeben ist ja keine Option. Das habe ich in meinem Leben immer so gehandhabt. Es muss immer weitergehen. Wir müssen wieder in die Zukunft schauen, hoffentlich in eine bessere.
Als Sie den Gemeindevorsitz übernahmen, sprangen Sie ins kalte Wasser. Wie kalt war es?
Ich hatte mich nach der Fertigstellung der neuen Synagoge 2007 ja zur Wahl gestellt, aber nicht wirklich daran geglaubt, dass die Mehrheit mir dieses Amt tatsächlich übertragen würde. Man ist nie als Gemeindevorsitzende geboren. Bei mir war das natürlich eine besondere Situation, weil ich schon immer als Kind unter dem Schreibtisch meines Vaters Kurt Neuwald sel. A., der ja viele Jahre Gemeindevorsitzender war, gespielt habe, als er in der Hinterhof-Synagoge sein Amt ausübte. Niemand kann sich darauf vorbereiten. Man wird ins kalte Wasser geworfen, und wenn man Glück hat – und das hatte ich, denn intern und extern hat mich immer ein perfektes Team unterstützt –, dann kann man viel erreichen.
Was hatte Ihr Vater damals für Aufgaben?
Er hatte darauf geachtet, dass das Gemeindeleben und der Religionsunterricht funktionieren, dass der Friedhof in Ordnung ist, dass es einen Vorbeter gibt, sodass die Beerdigungen und Gottesdienste stattfinden können. Damals ist mein Vater noch mit einem kleinen Lieferwagen nach Enschede in Holland gefahren und hat dort in der damals einzigen Mazzebäckerei Europas Mazze für die ganze Gemeinde geholt. Heute bestellen wir sie per Mausklick, und sie kommt zu uns. Es war damals alles schwieriger, aber die Gemeinde war auch kleiner. Etwa 70 Mitglieder, überwiegend Holocaust-Überlebende, hatte die Kultusgemeinde in der Nachkriegszeit. In einem Hinterhof eines Wohnhauses wurde damals die Synagoge gebaut. Es gab nicht viel Öffentlichkeitsarbeit und kaum Veranstaltungen. Dank der »Kontingentflüchtlinge« wuchs die Gemeinde auf zeitweise über 500 Mitglieder. Mit der Neuen Synagoge sind wir dann 2007 ins Zentrum der Stadt gekommen. Und das hat auch ganz viele neue Aufgaben mit sich gebracht.
Was waren Ihre Pläne?
Mit dem Umzug mussten wir uns nach außen hin öffnen. Alle wollten die Neue Synagoge sehen, nachdem sie eingeweiht worden war. Als ich zum ersten Mal während der Bauzeit die Baustelle betreten durfte, erschrak ich. Ich erinnere mich noch genau. Ich befürchtete, dass alles viel zu groß wird. Auf den Plänen sah ja alles viel kleiner aus. Was haben wir denn da gemacht, dachte ich. Heute wird jeder Raum intensiv genutzt. Unsere Mitglieder mussten das Haus erst kennenlernen, und glücklicherweise ist das Gemeindezentrum sofort ein beliebter Ort der Begegnung und des gemeinsamen Lernens geworden. Und auch die Besucher kamen und kommen. Wir haben wahnsinnig viele.
Wie war das Gemeindeleben?
Beim Einzug war die Gemeinde noch größer als heute. Es waren fast nur Zuwanderer und einige Alteingesessene, überwiegend Nachkommen von Schoa-Überlebenden. Im Laufe der Zeit sind wir eine große Familie geworden und verstehen uns gut. Die Älteren haben viel Wissen mitgebracht, die Mittleren und Jüngeren wussten nur wenig über die jüdische Religion. Da hatten wir viel zu tun, ihnen die Religion nahezubringen. Aber wir haben immer viel Spaß zusammen, und es herrscht eine gute, harmonische Stimmung.
Sie sind durch Höhen und Tiefen gegangen. Vor ein paar Jahren waren Sie schwer krank.
2018 habe ich von jetzt auf gleich eine sehr schlechte Diagnose bekommen und hatte wenig Aussichten auf Genesung, aber ich habe es doch geschafft. Ich bin durch eine ziemlich schwere Zeit gegangen. Mein Ehemann und die Gemeinde haben mich toll unterstützt.
Dennoch waren Sie die ganze Zeit immer erreichbar.
Ja, aber ich konnte nicht jeden Tag kommen, weil ich durch die Therapie oft zu schwach war. Aber ich war mindestens einmal in der Woche vor Ort und telefonisch immer erreichbar, sogar auf der Chemo-Station. Aufgeben ist eben auch in diesem Fall keine Option.
Gewinnt man durch die Arbeit als Gemeindevorsitzende Freunde, oder verliert man sie?
Beides. Ich habe einen sehr großen Freundeskreis, und wenn ich mich heute mit einer Freundin verabrede, dann wird das Treffen erst in circa sechs Wochen möglich sein. Ja, ich habe Freunde verloren, weil ich einfach keine spontanen Termine wahrnehmen kann, sondern meine ganze Zeit der Gemeinde widme. Aber man gewinnt auch Freunde durch die vielen Zusammenkünfte und Veranstaltungen in der Synagoge. Ich glaube, es hält sich die Waage. Aber eines meiner Ziele ist auch, alte Freundschaften wiederaufleben zu lassen.
Ihr Terminplan ist ständig voll. Sie kommen doch bestimmt auf mehr als 40 Stunden in der Woche?
Ja, ich arbeite derzeit immer zwei Tage in der Woche in der Gemeinde und drei Tage im Homeoffice oder mache Außentermine. Seit ein paar Monaten kommt auch der Sonntag mit dazu. Es ist schon etwas anstrengend geworden. Aber wir werden ab Januar einen Geschäftsführer haben, und meine operativen Aufgaben werden ihm dann übergeben.
Sie haben die ganze Zeit ehrenamtlich gearbeitet?
Ich habe weder eine Aufwandsentschädigung noch ein Gehalt bekommen. Es ist schwierig, unter diesen Bedingungen einen Nachfolger zu finden, denn irgendwie müssen am Morgen die Brötchen ja auf den Tisch kommen. Durch die Einstellung des Geschäftsführers reduziert sich die Arbeit für den zukünftigen Vorstand, und dann wird es jetzt sicher Interessenten für die Arbeit im Vorstand und in der Repräsentanz geben.
Was war Ihr schönstes Erlebnis?
Es gab ganz viele schöne Erlebnisse. Aber am schönsten fand ich die Einweihung der Neuen Synagoge. Und den Tag der Offenen Tür direkt danach. Das war so unfassbar schön und so aufregend. Es war absolut wunderbar, fröhlich und besonders feierlich, es war ein Fest ohne Ende, und ich erinnere mich an jede Minute. Ich habe das große Glück, dass ich meinen Traum leben durfte, das können nicht so viele Leute von sich behaupten. Das ist wirklich ein Privileg. Und ich bin dankbar, dass ich das machen durfte und immer so gut unterstützt wurde.
Es gibt für Sie ein Leben danach?
Auf jeden Fall. Ich habe fest vor, mit meinem Mann möglichst viele Reisen zu machen. Wir haben viele Freunde und Hobbys. Golf spielen möchte ich wieder, ich male auch so gerne und genieße es, Bücher zu lesen, das Theater oder das Kino zu besuchen. Das möchte ich in Zukunft machen.
Demnächst muss Ihr Nachfolger gewählt werden.
Wir haben meine bisherigen Aufgaben nun aufgeteilt: Der neue Geschäftsführer übernimmt das operative Geschäft, und unser neu eingestellter Rabbiner wird sich ab Februar um alle religiösen Fragen kümmern. So kann dann der neu gewählte Vorstand wieder die Kernaufgaben übernehmen: intern Ziele zu definieren und zu überwachen, die Gemeinde nach außen zu vertreten und die interkulturelle Arbeit fortzuführen. Unter diesen Voraussetzungen bin ich sicher, dass sich genügend Kandidaten finden werden.
Ist es der richtige Moment?
Ja, es ist der ideale Zeitpunkt für einen Wechsel in der Gemeindeleitung. Unser Vorstand und die Repräsentanz übergeben ein gut bestelltes Feld, das dem neuen Team die Möglichkeit gibt, eigene, neue Ziele zu setzen. Und ich bin nicht aus der Welt. Wenn man Fragen hat, habe ich immer ein offenes Ohr, denn ich gehe ja in großer Liebe. Zu allen Feiern und Gottesdiensten werde ich kommen, die Gemeinde ist sozusagen mein zweites Zuhause; oder sogar das erste. Seit meiner Kindheit übrigens, als ich unter dem Schreibtisch meines Vaters spielte.
Mit der Betriebswirtin und Gemeindechefin sprach Christine Schmitt.