Als ich zur Welt kam, wurde bei mir eine seltene Krankheit diagnostiziert. Die ersten 18 Jahre meines Lebens hatte ich damit zu tun. Lange habe ich das bei Interviews ausgeklammert, aber mittlerweile bin ich bereit, darüber zu sprechen. Es gab zwei Nahtod-Erfahrungen, an die ich mich nicht aus bewusstem Erleben erinnern kann, sondern nur durch die Erzählung anderer.
Dennoch habe ich das Gefühl, dass diese Erfahrungen in den Körper eingeschrieben sind. Oft war ich auch mit Aussagen von Ärzten konfrontiert, die sich über meinen Kopf hinweg darüber unterhielten, ob ich es wohl schaffen würde. Ich war also schon sehr früh mit der eigenen Vergänglichkeit konfrontiert.
Meine Mutter hat mich aus diesen frühen Nahtod-Situationen mental mit einem Bach-Choral zurückgeholt, den sie gesummt hat. Sie war bildende Künstlerin, kam jedoch aus einer Musikerfamilie.
Die Musik spielte auch eine große Rolle in dem Haus, in dem ich in Oldenburg aufwuchs. Unsere Vermieterin war Ilse Reil, eine recht bekannte Blockflötistin im Bereich der Barockmusik. Ich hatte bei ihr Unterricht und habe schon früh in ihrem Trio bei Konzerten und sogar bei einer Tonaufnahme mitgewirkt. Ich war von Musik umgeben. Daher wusste ich schon als Kind, dass ich Musikerin werden wollte.
In dieser Zeit habe ich gern am Klavier improvisiert, noch bevor ich das Instrument erlernte. Dabei habe ich mir mit Klängen alle mögliche Geschichten oder Naturphänomene wie Blitz und Donner vorgestellt. Aus heutiger Sicht würde ich das bei mir als die Keimzelle des Komponierens bezeichnen.
Aus zwei Nahtod-Erfahrungen holte mich meine Mutter mit einem Bach-Choral zurück.
In der Schule war ich eine absolute Außenseiterin, und das dreifach. Einerseits, weil ich musikalisch begabt war und bei »Jugend komponiert« Preise gewann. Andererseits, weil ich in der Schule sehr gut war, trotz meiner häufigen Abwesenheit, denn ich war entweder im Krankenhaus oder bei Konzerten. Außerdem war ich auch noch das einzige jüdische Kind an meiner Schule. Das Gefühl, eine Außenseiterin zu sein, verfolgt mich bis heute. Nur habe ich mich mittlerweile daran gewöhnt. Manchmal finde ich es sogar angenehm, weil ich dadurch eine gewisse Distanz habe und keinen Gruppenzwang empfinde. Aber als Kind habe ich sehr darunter gelitten.
MUTTER Meine Mutter war die Malerin Elisabeth Naomi Reuter. Sie hatte kein einfaches Leben, andererseits aber sehr viel Kraft in sich. Sie war freischaffende Künstlerin und alleinerziehende Mutter mit einem Kind, das sehr krank war. Ab und zu illustrierte sie etwas, um Geld zu verdienen. Aber sonst lebte sie für ihre eigenständige Kunst. Es ist schon sehr bewundernswert, wie sie das alles geschafft hat. Für mich ist sie bis heute Inspiration und Vorbild.
In Oldenburg war meine Mutter in einer jüdischen Gruppe aktiv, die 1992 zur Gemeindegründung führte – gerade rechtzeitig zu meiner Batmizwa, die ich zusammen mit zwei anderen Mädchen feierte: die erste in Oldenburg nach der Schoa.
Schon zuvor hatten wir in der jüdischen Gruppe gemeinsam mit den Erwachsenen gelernt. Damals kam Rabbiner Henry Brandt aus Hannover öfter zu uns, ebenso Leo Trepp. Er war vor der Schoa Rabbiner in Oldenburg. Beide waren für mich prägende Figuren. Hier traf ich jüdische Kinder, die jedoch an anderen Schulen lernten. Noch immer denke ich gern an diese schöne Zeit des Aufbruchs der Gemeinde zurück.
Als ich einmal ein Machane wegen eines Klinikaufenthaltes absagen musste, nahm mich Sara-Ruth Schumann mit in ihren Urlaub.
Mehrfach fuhr ich auf Machanot und mit zwölf Jahren zum ersten Mal nach Israel, was mich ganz tief beeindruckt hat. Mit 15 Jahren war ich dann drei Monate lang im Norden von Israel bei drei verschiedenen Gastfamilien. Das war eine sehr schöne Zeit, in der ich wunderbare Menschen kennenlernte.
Einen besonderen Bezug hatte ich zu Sara-Ruth Schumann, der Vorsitzenden der Oldenburger Gemeinde. Sie hat sich sehr liebevoll um mich gekümmert. Als ich einmal ein Machane wegen eines Klinikaufenthaltes absagen musste und darüber traurig war, hat sie mich in ihren Urlaub auf die Insel Spiekeroog mitgenommen. So hatte ich doch noch ein wenig Erholung in jenem Sommer, das tat mir damals gut.
Mit 14 Jahren nahm ich erstmalig am Wettbewerb »Jugend komponiert« teil. Es war toll, auf Schloss Weikersheim zu sein und andere Jugendliche kennenzulernen, die auch so etwas Komisches machten wie Komponieren. Meine erste Komposition war ein Stück fürs Klavier. Es bestand aus drei Fragmenten mit dem Titel Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt und war an Texte des österreichischen Schriftstellers Peter Handke geknüpft. Ich weiß nicht, wie ich darauf gekommen bin, aber ich habe den Wettbewerb damit gewonnen – und danach fünf Jahre in Folge ebenfalls.
JAZZ In jener Zeit wurde plötzlich auch mein Interesse für Jazz geweckt. Irgendwie war ich an CDs von Miles Davis gekommen und an das Album Expectations – eine ganz frühe Aufnahme von Keith Jarrett und seinem Trio. Das war total abgedrehter Free Jazz, den ich mir immer wieder anhörte und wahnsinnig inspirierend fand. Daraufhin meldete ich mich an der Uni Oldenburg zu einem Jazz-Kurs an, was meine Mutter unterstützte. Mit den Studenten habe ich in einem Keller Jazz gemacht, wobei ich Klavier und auch ein wenig Schlagzeug spielte.
Wie seltsam musste das wirken – ich als kleiner Teenager spiele Jazz mit den großen Jungs! Vielleicht hatte das etwas mit meinem inzwischen schon vertrauten Außenseitergefühl zu tun, dass ich mir darüber keine Gedanken machte. Durch den Jazz ging das, was ich nun an Musik aufgeschrieben habe, ins Freitonale, während es vorher eher barocke Stilkopien waren.
Wie seltsam musste das wirken – ich als kleiner Teenager spiele Jazz mit den großen Jungs!
Mit 18 wurde ich Jungstudentin für Komposition in Hannover. Den Umzug dorthin erlebte ich als eine Art positiven Schock, weil ich aus einer neoklassizistischen Geborgenheit herauskam und bei sehr guten Lehrern lernte, alles zu hinterfragen, um noch einmal anders zu meiner eigenen musikalischen Sprache zu finden. Die Ästhetik meiner Musik hat sich seitdem mehrfach gewandelt. Sie wurde zum Teil fragmentierter, gestörter, störrischer, oft ein bisschen spröder, aber auch radikaler und, so hoffe ich, individueller.
Im Jahr 2005 wurde ich Meisterschülerin bei Walter Zimmermann in Berlin. Er forderte mich auf, tief in mich hineinzuhören, quasi den inneren Klang zu erspüren. In diesem Meisterstudiengang tat ich dann etwas, was ich eigentlich niemandem raten würde: Ich begann, eine große Oper zu schreiben, L’Absence. Grundlage war das Buch der Fragen des französischen Philosophen Edmond Jabès.
In diesem Werk spielt sich die Liebesbeziehung zweier Juden, Yukel und Sarah, in einem komplex-schillernden Mosaik aus Kommentaren, Erzählpassagen, Monologen, Dialogen und Aphorismen ab. Daran schrieb ich zwei Jahre zunächst ohne Auftrag. Dann hatte ich einen Auftrag für eine Aufführung in Rheinsberg, die aber platzte, weil das Werk zu umfangreich geworden war und nicht mehr finanziert werden konnte. Am Ende bekam der Dirigent Peter Ruzicka, der langjährige Intendant der Salzburger Festspiele und derzeitige Intendant der Salzburger Osterfestspiele, die Partitur in die Hände und nahm sie für die Münchner Biennale an, die er damals leitete. Ein riesiger Glücksfall!
TEAMIM Ein wichtiges Ereignis in meinem Leben war, dass ich Jascha Nemtsov kennenlernte, meinen jetzigen Mann. Er ist Pianist und Musikwissenschaftler; durch ihn lernte ich die jüdische Kunstmusik des 20. Jahrhunderts kennen. In der Folge habe ich mich analytisch damit beschäftigt. Für mich stellt sich seither die Frage, ob ich mich mit dem Judentum vom Innersten der Musik heraus beschäftigen kann.
Meine Mutter hat übrigens eines der ersten Bilderbücher zur Schoa erschaffen.
Ich hatte schon zuvor einen ersten intuitiven Versuch unternommen, in der Tradition jüdischer Musik zu schreiben, aus dem ein Niggun entstand, den ich auch selbst auf der Oboe spielte. Und in meiner Oper L’Absence habe ich die Gesangspartien wie Teamim singen lassen, weil ich das Prinzip, wie man die Tora im Gottesdienst liest, diesen gewaltigen Text mit solchen kleinen Melodiefloskeln, hochmodern finde.
Schon für meine Mutter hatte das Jüdische in ihrer Kunst thematisch eine große Rolle gespielt. Sie hat übrigens eines der ersten Bilderbücher zur Schoa erschaffen: Judith und Lisa. Mit meinem Mann entwickelte ich die Idee, die Tradition der jüdischen Salons wiederaufleben zu lassen. 2015 gründeten wir in Berlin einen Raum für Kunst und Diskurs, wo wir neben unseren Berufen regelmäßig Veranstaltungen unterschiedlicher Art organisieren. Wenn unsere beiden Kinder ein wenig älter sind, können wir da sicher noch mehr machen.
Aufgezeichnet von Gerhard Haase-Hindenberg