Sobald Menschen das Wort »Zahnarzt« hören, denken viele an Schmerzen. Dabei ist es doch genau umgekehrt: Der Zahnarzt nimmt den Schmerz, und zwar ziemlich schnell. Das ist es, was große Befriedigung verschafft in unserem Beruf. Richten wir die Zähne eines Patienten, steigern wir dessen Lebensqualität. Zudem existiert ja diese enge Korrelation zwischen den einzelnen Zähnen und unseren Organen. Zähne geben Auskunft über den Gesundheitszustand unseres gesamten Körpers. Das Lächeln, das mit schönen Zähnen noch mehr bezaubert, ist da am Ende nur das Sahnehäubchen.
Ich wollte Zahnarzt werden, sobald die Schule hinter mir lag. In Israel bedeutete das, dass ich zu einem psychometrischen Test anzutreten hatte, dessen Ergebnis mir allerdings kurz und bündig zu verstehen gab, dass ich zu doof sei für diesen Beruf. Ich ging erst einmal zur Armee, machte danach wieder den Test. Wieder zu doof. Aller guten Dinge sind drei, dachte ich mir, begann in Jerusalem ein Biologiestudium, machte dann wieder den Test. Wieder zu doof. Wer etwas wirklich will, gibt nicht auf. Also habe ich mich nach Deutschland aufgemacht.
Dass ich dort hängen bleiben würde, war weder absehbar noch geplant, und bis heute habe ich nicht vergessen, wie es war, als ich damals vor meinem Vater stand, um ihm zu verkünden: »Abba, ich gehe jetzt nach Deutschland, nach München, um Zahnmedizin zu studieren.« Mein Vater hat angefangen zu weinen. Das hatte ich bis dahin noch nie bei ihm gesehen. Ich war sein ältester Sohn, und wäre es nach ihm gegangen, wäre ich Rechtsanwalt geworden. Außerdem befürchtete er, dass seine beiden anderen Kinder, mein Bruder und meine Schwester, meinem Beispiel folgen und ebenfalls Israel verlassen würden. Ich blieb standhaft und fand es an der Zeit, mir nichts mehr sagen zu lassen. Mittlerweile kümmere ich mich jetzt bereits seit 25 Jahren in einer Praxis mitten in München um die Zähne von Menschen.
lehrerin Geboren wurde ich 1956 in Jerusalem. Meine Jugend verbrachte ich in den Gassen des Stadtviertels Kiryat Moshe, das damals ziemlich religiös war. Auch meine Familie gehörte eher zu den recht Traditionellen. Trotzdem gab es regelmäßig kurz vor Schabbat diese eher lustige Szene, in der mein Vater sich aufmachte, um schnell sein Auto ein bisschen außerhalb zu parken. Nach dem Synagogenbesuch haben wir dann unauffällig das Viertel verlassen, sind ins Auto gestiegen und zum nächsten Fußballspiel gefahren.
Wer wissen will, wie besonders das Leben und die Atmosphäre damals in Kiryat Moshe waren, der sollte Im Haus der Großen Frau von Meir Shalev lesen. Meir Shalev ist ja ebenfalls dort aufgewachsen, wenn auch ein paar Jahre früher. Vor Kurzem habe ich ihn bei der Präsentation seines letzten Buches Mein Wildgarten getroffen, habe ihn sogar angesprochen. Seine Mutter, Batya Shalev, war nämlich in der Grundschule meine Klassenlehrerin und erste große Liebe. Sie hat wirklich verdammt gut ausgesehen. Das habe ich Meir Shalev erzählt.
»Also, deine Mutter Batya war für mich die Elizabeth Taylor schlechthin«, habe ich gesagt, woraufhin er lachen musste und erwiderte: »So ungefähr muss das wohl für meinen Vater auch gewesen sein.« Meir Shalev gehört für mich zu den besten Schriftstellern. Menschen durch Sprache zu berühren, das fasziniert mich.
Und tatsächlich spüre ich seit einiger Zeit so etwas wie einen Auftrag in mir, auch zu schreiben, und zwar ein Buch über meinen Großvater mütterlicherseits. Abraham hieß er, und ich verdanke ihm ganz viel. Er hat mich zu dem gemacht, der ich heute bin. Er hat den Menschen Fröhlichkeit geschenkt, hat für sie getanzt und gesungen. Und jetzt wünsche ich mir, etwas von seiner Art durch mein Buch weiterzugeben.
heirat Beim Schreiben gehe ich in meine Kindheit zurück, in der ich jedes Jahr einen Sommermonat lang diesen Lebemann von Großvater genießen durfte. Er wohnte zusammen mit seiner zweiten Frau in Haifa in einer kleinen Wohnung am Meer. Als Seemann fühlte er sich nur in der Nähe eines Hafens zuhause. Jeden Tag ist er um fünf Uhr aufgestanden und ins Meer hinaus geschwommen. Danach hat er sich auf seine Terrasse gesetzt, hat seinen türkischen Kaffee getrunken und seine billigen Zigaretten geraucht.
Ganz ähnlich beginnt seit einigen Jahren auch mein Tag. Ich stehe um fünf Uhr auf, trinke meinen Tee, meinen Kaffee, rauche mein kleines Zigarettchen und beginne zu schreiben. Dieser Großvater hatte dem kleinen dicken Jungen, der ich einmal war, das Schwimmen beigebracht – den einzigen Sport, den ich bis heute betreibe. Und auch das Rauchen habe ich von ihm. Es tut mir gut, und also ist es gesund. Mein Vater ist mit 64 gestorben. Das heißt, dass mir vielleicht noch zwei Jahre bleiben, und die will ich genießen.
Was auch der Grund dafür ist, dass ich beschlossen habe, nächstes Jahr ein zweites Mal zu heiraten. Ich werde eine Frau heiraten, die ich »Schemesch« nenne, meine Sonne. Sie hat während einer Lebensphase Licht in mein Leben gebracht, in der ich oft depressiv im Bett lag, nicht wusste, ob und wie es weitergehen sollte. Da kam meine Schemesch, immer fröhlich, immer mit guten Worten auf den Lippen, hat die Vorhänge aufgezogen und mich dazu bewegt, gemeinsam mit ihr hinaus ins Leben zu gehen.
familie Meine erste Frau, mit der ich immer noch freundschaftlich verbunden bin, ist die Mutter meines Sohnes Lenn, der bis vor Kurzem das Café beim Jüdischen Museum in München geleitet hat. Außerdem habe ich noch eine Tochter, Lilith. Sie studiert hier an der Universität. Lenn und Lilith machen mich stolz. Sie lieben die Menschen wie ich und wie ihr Urgroßvater Abraham. Zu wem die beiden zum Zahnarzt gehen, ist ja wohl keine Frage.
Meine Patienten bezeichne ich übrigens ebenfalls als Teil meiner Familie. Ich spüre schnell, ob jemand zu mir und meiner Praxis passt. Ist das nicht der Fall, sage ich: »Es gibt so viele Zahnärzte, suchen Sie sich doch lieber einen anderen.« Für einen neuen Patienten nehme ich mir bei der ersten Sitzung mindestens eine Stunde Zeit. Erkläre ihm alles, mache Röntgenaufnahmen, zeige ihm die Räumlichkeiten, vermittle ihm das Gefühl, bei mir zu Hause zu sein. Hat jemand Angst, dann gebe ich weiter, was ich aus der Kabbala weiß, nämlich dass Angst etwas ist, was nur in unserem Gehirn existiert, uns hemmt und niedermacht, und wovon wir uns durch einen bewussten Schritt befreien sollten.
Mittwochs ist der Tag, an dem die Praxis geschlossen ist und ich Zeit habe, Gutachten zu schreiben. Einerseits hasse ich das, andererseits finde ich es äußerst unterhaltsam, als angeforderter Gutachter bei Gerichtsverhandlungen anzutreten. Wenn die beiden streitenden Parteien aufeinander treffen, dann ist das für mich wie gutes Theater.
Mittwochs bin ich aber auch für bedürftige Menschen aus der jüdischen Gemeinde da, die eine Zahnbehandlung benötigen. Es gibt in unserer Tradition »Ma’ase Kesafim«, das Gesetz, zehn Prozent seines Einkommens an Arme abzugeben. Das versuche ich auf diese Weise, und viel mehr gibt es dazu auch nicht zu sagen. Ich bin einfach froh, Jude zu sein.
synagoge Als Teil der Münchner Gemeinde fühle ich mich dennoch nicht. Als Israeli sefardischer Herkunft kann ich zum Beispiel mit den Gottesdiensten, den Gesängen, den Gebeten hier in der Synagoge überhaupt nichts anfangen.
Seit mein Vater vor 22 Jahren an Erew Sukkot gestorben ist, fliege ich einmal im Jahr nach Israel. Ich besuche meine alte Mutter, fahre zu der Synagoge, in die ich als kleiner Junge gegangen bin, setze mich an Jom Kippur auf den Stuhl, auf dem mein Abba immer saß, singe laut unsere Lieder und spüre die Reinigung.
Ich habe meinen Vater geliebt, ich habe ihn aber auch gefürchtet, weil er sehr streng und herrisch zu uns war. Nach seinem Vater, Großvater Menachem, der ebenfalls äußerst ungemütlich werden konnte, wurde ich benannt. Großvater Menachem verlangte von mir als Junge immer, eine Kippa zu tragen, was mich jedes Mal zornig und unfolgsam machte, worauf er mir weissagte, dass Gott mich bestrafen werde und ich mit 25 Jahren eine Glatze bekäme.
Was soll ich sagen? Mit 25 Jahren bildeten sich auf meinem Lockenkopf erste kahle Stellen. Recht hatte mein Großvater Menachem trotzdem nicht.