Porträt der Woche

»Ich bin Feministin«

Ida Schrage ist Therapeutin, floh vor einer Militärdiktatur und hilft Migrantinnen

von Matilda Jordanova-Duda  24.05.2020 13:57 Uhr

»Jetzt bin ich mehr für meine Enkel da und unterstütze meine berufstätigen Töchter«: Ida Schrage lebt in Köln. Foto: Jörn Neumann

Ida Schrage ist Therapeutin, floh vor einer Militärdiktatur und hilft Migrantinnen

von Matilda Jordanova-Duda  24.05.2020 13:57 Uhr

Ich bin mein Lebtag ein politischer Mensch gewesen. Und bleibe es weiterhin. Da ich die deutsche und die brasilianische Staatsbürgerschaft habe, interessiere ich mich für beide Länder. Und in beiden bereitet mir das Erstarken von Rassismus und Antisemitismus Sorgen. Ich denke, wir sollen jedoch nicht mit Angst reagieren, sondern in die Offensive gehen, in die Basisarbeit.

Einmal die Woche mache ich therapeutische Beratung für Migrantinnen und Geflüchtete bei »agisra« in Köln, einer NGO, die von Frauenhandel, Zwangsheirat, Genitalverstümmelung und anderen Formen patriarchaler Gewalt Betroffene unterstützt, für die Menschenrechte der Migrantinnen und ihre rechtliche und soziale Gleichstellung eintritt. Ich war hier 15 Jahre hauptamtliche Mitarbeiterin und habe auf Portugiesisch, Spanisch und Französisch beraten.

Meine Kolleginnen und ich begleiten die Klientinnen zu den Behörden und kontaktieren bei Bedarf Rechtsanwältinnen. Seit ich in Rente gegangen bin, mache ich ehrenamtlich als Paar- und Familientherapeutin weiter.

CORONA Die Corona-Zeit empfand ich als sehr hart, weil mir der Kontakt zu den Menschen fehlt. Auch meine Familie habe ich vermisst. Mittlerweile hat »agisra« die persönlichen Beratungen wiederaufgenommen. Wir tragen alle Masken, waschen uns ständig die Hände und passen auf.

Ich definiere mich als Feministin. Ich glaube allerdings nicht, dass Frauen und Männer Feinde sind oder die einen besser als die anderen. Beide sollen die gleichen Chancen bekommen und können sie nur gemeinsam verwirklichen.

Mein Vater verkaufte sein Auto, um mir die Flucht aus Brasilien zu ermöglichen.

Agisra ist auch eine Lobby für die Migrantinnen. Wir sind keine Ausländerinnen: Wir leben hier, arbeiten hier, zahlen Steuern. Wir haben ein Recht auf Respekt für die Werte, Fähigkeiten und Erfahrungen, die wir aus der Heimat mitgebracht haben. Zu uns kommen Frauen aus der ganzen Welt, Angehörige aller Religionen. Oft höre ich: »Ach, Sie sind die erste Jüdin, die ich kennenlerne!« Ich habe nie meine Identität versteckt.

ELDORADO Ich wurde in einer jüdischen Familie in Brasilien geboren. Mein Vater stammt aus Polen, meine Mutter aus Bessarabien. Mein Opa mütterlicherseits hatte seinerzeit gehört, dass Brasilien ein Eldorado sei, und wollte sein Glück versuchen.

Meine Oma folgte ihm samt Tochter Jahre später: Sie war eine sehr mutige Frau und war es leid, als Strohwitwe zu leben. Mein Vater wanderte wegen Pogromen in Polen aus. Aus seiner riesigen Familie ist nach dem Holocaust kaum jemand übrig geblieben.

Oft höre ich: »Ach, Sie sind die erste Jüdin, die ich kennenlerne!« Ich habe nie meine Identität versteckt.

Vater hatte starke Schuldgefühle, selbst in Sicherheit zu sein und nichts für die Verwandten tun zu können. Meine Geschwister und ich wurden auch aus diesem Grund nicht religiös erzogen. Vater sagte: Wenn es Gott gibt, warum hat er dann das mit den Juden gemacht?

Wir feierten zu Hause zwar immer die Feste und gingen in die Synagoge in unserem Viertel. Unsere Familie war aber zionistisch und sozialistisch. Ich bekam schon in jungen Jahren viel von Politik mit. In São Paulo gab es damals eine sehr große jüdische Gemeinde. Viele waren links, weil sie die harten Klassenunterschiede nicht hinnehmen wollten.

Ich studierte Pädagogik und Psychologie und engagierte mich in der progressiven Bewegung »Acão Popular« (Volksaktion). Ich ging in die Arbeiterviertel, beteiligte mich an einer Alphabetisierungskampagne und arbeitete in einer Fabrik am Fließband, um die Kollegen über ihre Rechte aufzuklären.

FOLTER Während der Militärdiktatur zwischen 1964 und 1987 wurden Oppositionelle verfolgt und umgebracht. Auch ich kam ins Gefängnis und erfuhr am eigenen Leib, wie viele Militärs rassistisch und antisemitisch eingestellt waren. Ich wurde beschimpft und angebrüllt, mit Elektroschocks gefoltert und am ganzen Körper angefasst. Es ist pervers zu sagen, man hat mir »nur« das angetan, aber andere wurden noch schlimmer gequält. So mein damaliger Freund und späterer Ehemann. Er war ebenfalls politisch engagiert, wurde verhaftet und auf jede erdenkliche Weise gefoltert.

Nach mehreren Monaten schafften es meine Eltern mithilfe der jüdischen Gemeinde, mich aus dem Gefängnis herauszuholen. Vater hat sein Auto verkauft und mir auf verschlungenen Wegen einen Pass besorgt. Ich konnte nach Europa fliehen, zunächst nach Belgien, weil meine Uni einen Studentenaustausch mit Leuven hatte.

Im Gefängnis erfuhr ich am eigenen Leib, wie viele Militärs rassistisch und antisemitisch eingestellt waren.

Dort bekam ich jedoch keine Aufenthaltserlaubnis, weil ich kein Geld hatte. Deshalb fuhr ich zu meinem Bruder, der in einem Kibbuz in Israel lebte. Von dort nahm ich Kontakt zu den Eltern meines Freundes auf. Er war Deutscher, seine Familie wusste nichts von seinem Schicksal. Im Knast waren wir ja praktisch nicht existent. Nun konnten sie mithilfe des Konsulats intervenieren und seine Freilassung erwirken. Er wurde nach Deutschland ausgewiesen und kam später zu mir in den Kibbuz. Danach zogen wir beide in seine Geburtsstadt Köln.

ANERKENNUNG Heute sind wir geschieden, aber weiterhin befreundet. Wir haben zwei erwachsene Töchter und fünf Enkel. Mein Ex-Mann ist kein Jude, meine Familie war zunächst total dagegen, weil ich die Erste war, die eine Beziehung zu einem Nichtjuden hatte. Sie akzeptierten ihn jedoch peu à peu. Dennoch, meine Eltern hatten bis zu ihrem Tod Angst um mich, wie es mir in Deutschland ergeht. Ich habe selbst lange gebraucht, um mich hier wohlzufühlen: Meine ganze Erziehung sprach dagegen. Nazis und Deutschland waren für uns Synonyme.

Während ich zehn Jahre lang um die Anerkennung meines brasilianischen Diploms kämpfte, unterrichtete ich privat Portugiesisch, gab Kurse an der Volkshochschule, beantwortete Leserbriefe in der brasilianischen Redaktion der »Deutschen Welle« und bereitete Entwicklungshelfer auf ihren Einsatz vor. Nach der Anerkennung machte ich eine Fortbildung als systemische Paar- und Familientherapeutin.

2013 durfte ich als eine von sieben Frauen in São Paulo die offizielle Entschuldigung der brasilianischen Regierung für die Verbrechen der Militärdiktatur entgegennehmen.

Mein Mann und ich feierten zu Hause immer Weihnachten und Chanukka, Ostern und Pessach. Pessach als Fest der Befreiung ist mir besonders wichtig. Unsere Kinder besuchten in der Schule keinen Religionsunterricht. Sie hatten Kontakt zu den Großeltern beider Seiten.

Wir gehörten einer Gruppe an, in der sich Juden und Nichtjuden trafen, um über Identität zu diskutieren. Ein Teil dieser Gruppe gründete später die Liberale Gemeinde in Köln-Riehl. Ich bin zwar kein Gemeindemitglied, aber ich unterstütze sie, wo ich kann. Die Gemeinde stellt ein spannendes Kulturprogramm auf die Beine, auch tut sie viel für Geflüchtete aus Kriegsgebieten: Respekt dafür!

Ich finde es toll, dass es dort eine Rabbinerin und eine Tora für die Kinder gibt, auch, dass Frauen und Männer gleichbehandelt werden.

AMNESTIE Nach Brasilien durfte ich erst nach der Amnestie wieder einreisen. Doch mein Mann und ich haben nie aufgehört, uns zu engagieren. Wie einst mein Vater hatte auch ich Schuldgefühle, weil ich hier war und die Kameraden in Brasilien starben. Wir gaben die Zeitung »Brasilianische Informationsfront« für ganz Europa heraus, um über die politische Lage zu informieren, und erfuhren viel Solidarität.

2013 durfte ich als eine von sieben Frauen in São Paulo die offizielle Entschuldigung der brasilianischen Regierung für die Verbrechen der Militärdiktatur entgegennehmen. Ich galt nicht mehr als Kriminelle.

Die Linke in Brasilien heute hat die Basisarbeit vergessen: Auch deshalb kam Bolsonaro an die Macht. Natürlich sind nicht alle, die ihn gewählt haben, Faschisten – wie auch in Deutschland nicht alle AfD-Wähler Nazis sind. Wir sind Teil der Gesellschaft, tragen Verantwortung für sie.

Dass ich einen Beruf habe, verdanke ich auch dem Diaspora-Denken meiner Eltern: Sie sahen, dass es sonst unmöglich ist, in einem fremden Land zurechtzukommen.

Politikern hört man viel Blabla, aber in der Praxis kürzen sie die Mittel. In einer NGO hangelt man sich von Projekt zu Projekt mit Zeitverträgen, in den Pausen macht man die Arbeit ehrenamtlich weiter. Wir Beraterinnen kämpfen gegen Ausbeutung, dabei beuten wir uns ständig selbst aus.

FAMILIE Das merke ich unter anderem an meiner Rente. Als Migrantin, zudem ehemalige NGO-Mitarbeiterin, bekomme ich unverschämt wenig. Damit komme ich kaum über die Runden. Ich mache Sport, fahre viel Rad und liebe Kultur. Doch dafür reicht das Geld selten. Dabei heißt es immer: Dein Mann hat doch gut verdient?

Stimmt, Frauen meiner Generation wurden auf Heirat hin erzogen. Ich nicht, denn meinen Eltern war es wichtig, dass ich lerne und einen Beruf ergreife. Das war ihr Diaspora-Denken: Sie sahen, dass es ohne einen Beruf unmöglich ist, in einem fremden Land zurechtzukommen. Klar habe ich auch von einer Familie und Kindern geträumt. Wir können auch das, wenn wir wollen.

Jetzt, als Rentnerin, bin ich mehr für meine Enkel da. Drei von ihnen sind schon groß, und wir reden viel miteinander. Mein Freundeskreis ist auch eine Art Familie. Sie kümmern sich um die Enkel, als ob es ihre eigenen wären. Früher hatte ich nicht viel Zeit und keinen Kopf für meine Töchter. Jetzt versuche ich, sie als Frauen und Berufstätige zu unterstützen.

Aufgezeichnet von Matilda Jordanova-Duda

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